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Uraufführung

Ein Requiem

in der Stadt

des Todes



Requiem pour L. | Foto (C) Chris Van der Burght

Bewertung:    



Kunstveranstaltungen, verkommen zum Aperitif für einem „gelungenen Abend“, als einer Art geho­bener Geschmacksfrage – weit entfernt vom Verständnis der Sache, weit entrückt allem gesell­schaftlichen Diskurs, nurmehr Event, Statusdemonstration und narkotisierendes Amüsierprodukt – dem zu kontern, scheint Kunst berufen. So stellt etwa der Dichter Jean Genet (im Gespräch mit Hu­bert Fichte, 1975) zum Kunstkonsumieren fest (und was er da vom Rauchen sagt, würde auch vom Kaufen gelten):


„Wenn ich Zigarre rauche und als Zigarrenraucher definiert werden kann, wenn ich das Requiem von Mozart höre und meine Haltung als Zigarrenraucher ist wichtiger als das Hören des Requiems, handelt es sich nicht um Verfremdung, sondern um das Fehlen von Sensibilität. Es fehlt an den Ohren, es heißt, ich ziehe meinen Cigarillo dem Requiem vor.“


Mozarts Requiem wahrzunehmen ist folglich eine Aufgabe, mit Brecht zu sagen eine Arbeit: Zuschaukunst. Übrigens ist jede Aufführung des Requiems von Mozart experimentell, denn das Werk liegt im Original - bis auf die zwei Anfangssätze - nur im Particell vor (ein Grundgerüst aus Singstimmen mit Basso continuo), das gegen Ende abbricht, einige Sätze fehlen völlig. In der Tat wurde es so auch bereits aufgeführt und auf CD eingespielt (von Christoph Spering), ohne jede Ergänzung. Und in der Tat ist generell jede Aufführung dieses Requiem eine Herausforderung, denn es konfrontiert uns nicht nur mit Tod und Jenseits, mit Angst, Trauer und Hoffnung, sondern es war die Arbeit eines wirklich Sterbenden. Darüber hinaus sind die Fragmente höchste kompositorische Klassik - und jeder Versuch, sie aufführungstechnisch zu ergänzen, wird auch insofern, Auge in Auge mit Mozart, zu einem ultimativen Problem.

All dies hat Alain Platel und Fabrizio Cassol zu einem wunderbaren Opus - Requiem pur L. - inspiriert.

Für die Einstudierung des Werks bedurfte es nicht drei Monate oder gar Wochen, sondern über drei Jahre. Viele Abschnitte waren ungewöhnlich komplex notiert oder mussten überhaupt improvisato­risch aus dem gemeinsam Erprobten entwickelt und fixiert werden. Der Komponist sieht sich in die­sem Sinn als „Architekt“ der neu kreierten Werkstruktur. Das Ergebnis ist einzigartig. Ob Cassol und Platel nun Genets Bemerkung kennen oder nicht, sie sind ihr gerecht geworden (und dem Re­quiem), indem sie sich beide dem eigentlichen Kern des Themas auf rein künstlerische Weise näher­ten, dem Tod:


„Denn das Stück begleitet konkret und sichtbar eine Frau beim Sterben. Für deren Name und Leben steht der Buchstabe L im Titel dieser Uraufführung. Das Requiem pour L. ist dieser Frau aus Flandern und ihrer letzten und stillen Reise aus diesem Leben hinaus gewidmet. Vierzehn Musiker*innen verschiedener Kontinente verweben dafür die Kompositionen Mozarts mit der Welt der Oper, des Jazz und der populären Musik aus Afrika.

Requiem pour L. ist kein einfaches Theater und es ist sicher auch nicht einfach ‚nur‘ Theater. Platel und Cassol haben eine zeitgenössische Art von Messe für den Tod geschaffen, kein Tanztheater, aber ein sehr vitales und körperliches Musizieren auf dem sprichwörtlichen Gräberfeld. Ihr Requiem ist eine Übung in der Ars moriendi, der Kunst des Sterbens, ohne die es keine Kunst des Lebens gibt.“ (Zitat aus der Ankündigung)



Den gesamten Bühnenhintergrund nimmt eine Filmleinwand ein, auf der von Anfang bis Ende eine durch Zeitlupe auf die Dauer der Vorstellung gedehnte Videoaufzeichnung der letzten Stunde einer Frau in Agonie gezeigt wird. Keine Kamerabewegung. L. ist zart geschminkt, alterlos, vielleicht zwischen 50 und 70. Ihr Gesicht in Großaufnahme: sterbend umhegt von ihren Lieben. Diese blickt sie in den Momenten des Erwachens an, sie schaut auf sie, sie wird gestreichelt, sie lächelt, sie sinkt weg, blickt wieder auf, am Ende ist sie friedlich entschlafen. Das ist berührend, ergreifend, beklemmend, bestürzend, beunruhigend, doch voller Würde, voller Schönheit. Ihr Gesicht wird wie durchsichtig für das Gesicht aller Sterbenden. Schonungslose Konfrontation mit dem Verdrängten, provozierend. Davor, auf der Bühne, ereignet sich das Requiem. Platel hat für seine Performance einen einfarbig dunklen Raum gebaut, der ein Spiel wie zwischen Grabsteinen ermöglicht, ein geometrisches Labyrinth, das erst im langsamen Erhellen die Assoziation zum Holocaust-Mahnmal erzwingt. Wir sind ja mitten in der Stadt des Todes. So gelang Platel, und das ist das eigentlich Große, Humane daran, der Bogen vom liebevoll umhegten Sterben im Privatraum zum namenlosen Massentod, der politisch geplant, organisiert und noch immer über die Völker verbreitet wird. So nah der eine Tod wird, so gegenwärtig ist das anonyme Sterben der Unzähligen – in aller Welt. Die Musik bringt es zum Ausdruck. Die Instrumentalisten und Gesangssolisten bewegen sich zwischen den Stelen zunächst fast zufällig und individuell, erinnern an Touristen oder jugendliche Skater-Gruppen, Trauernde. Doch es ist ein musikalisch-körperliches Ritual aus Singen, Tanzen, Musizieren, stummen Szenen, Weinen, Schreien, symbolischen Gesten, Nachsinnen, Lachen, privaten kleinen Zeremonien, Rufen, Liegen, Innehalten, Begegnungen, Feiern und Jubeln… Natürlich beschwören die Körper Erotik, Sex und Einsamkeit. Geradezu explodiert die Lebenslust in der atemberaubend perfekten Choreografie des Sanctus, dann wieder betörende Momente der Versenkung, der (großartigen!) Solostimmen. Bisweilen müssen sie ihre Mozart-Partien völlig ungeschützt von Bassharmonien, quasi „nackt“ singen, frei ausgesetzt, die Intonation wird beinahe unsicher und verloren. Wie die Angst vor dem Tod.

Dieses Geniale seiner Lösung erweist sich auch darin, dass Fabrizio Cassol den universellen An­spruch des Textes auf eine überkontinentale Ebene hebt und die europäische Musiktradition (vom Gregorianischen Gesang über barocke Kontrapunktik bis zur Sinfonie) ganz auf der Mozart-Ebene belässt, ohne sie weiter zu treiben. So gewinnt Cassol für sich Freiheit, Souveränität gegenüber Mozarts sakrosanktem Notentext. Er baut um seine Neugruppierung von Passagen aus dem originalen Requiem-Skelett (und Abschnitten aus der Großen c-moll-Messe) jazzartig Klang­ strukturen afrikanischen und asiatischen Musizierens, eine Übermalung. So entsteht mit Brüchen und Verschmelzung ein sich gegenseitig befruchtender Dialog von Inhalt, Mozart-Musik, Requiem-Text, neuen Melodien und Rhythmen, Geräuschen tanzender Körper, Filmsituation und Raum, was unmittelbar dramatisch wirkt. Das ist vom ersten bis zum letzten Moment so fesselnd wie überzeugend: hier hat tiefe Auseinandersetzung ein kontrastreiches Werk geschaffen, das voller Vitalität ein Hymnus des Lebens ist. Zum Leben gehört zentral eben auch das Sterben, tagtäglich.

Mozart, durch und durch Realist & Dialektiker, bezeichnet in einem Brief (Wien, 4ten April 1787) an seinen Vater den Tod als besten Freund der Menschen und als Schlüssel zum wahren Glück:


„– obwohlen ich es mir zur Gewohnheit gemacht habe mir immer in allen Dingen das schlimmste vorzustellen – da der Tod (genau zu nemmen) der wahre Endzweck unsers Lebens ist, so habe ich mich seit ein Paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen so bekannt gemacht, daß sein Bild nicht allein nichts schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel beruhigendes und tröstendes! und ich danke meinem Gott, daß er mir das Glück gegönnt hat mir die Gelegenheit (Sie verstehen mich) zu verschaffen, ihn als den Schlüssel zu unserer wahren Glückseeligkeit kennen zu lernen. – Ich lege mich nie zu Bette ohne zu bedenken, daß ich vielleicht (so jung als ich bin) den andern Tag nicht mehr seyn werde – und es wird doch kein Mensch von allen die mich kennen sagn können daß ich im Umgange mürrisch oder traurig wäre – und für diese Glückseeligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer und wünsche sie vom Herzen Jedem meiner Mitmenschen. –“


Ein Abend inmitten Berlins, von wo so viel Tod in die Welt ausging, wie von keiner anderen Stadt Europas. Die Bilder, Gefühle und Gedanken folgen mir - und bleiben. Dieser lebendige Abend der Kunst lehrt Kunst des Lebens, also des Sterbens, und entlässt mich zuinnerst beeindruckt, bewegt, verändert. Die Uraufführung einer großartigen Kreation und ihre Ausführenden wurden gefeiert. Das Parkett erhob sich am Schluss sofort zu standing ovations. Großer Dank!



Requiem pour L. | Foto (C) Chris Van der Burght

Olaf Brühl - 22. Januar 2018
ID 10486
Requiem pour L. (Haus der Berliner Festspiele, 18.01.2018)
Musik: FABRIZIO CASSOL nach WOLFGANG AMADEUS MOZART
Regie und Bühne: ALAIN PLATEL
Musikalische Leitung: RODRIGUEZ VANGAMA
Dramaturgie: HILDEGARD DE VUYST
Video: SIMON VAN ROMPAY
Kamera: NATAN ROSSEEL
Kostüme: DORINE DEMUYNCK
Licht: CARLO BOURGUIGNON
Klangregie: BARTOLD UYTTERSPROT und CARLO THOMPSON
Mit: RODRIGUEZ VANGAMA (Gitarre, E-Bass), BOULE MPANYA, FREDY MASSAMBA und RUSSELL TSHIEBUA (Gesang), NOBULUMKO MNGXEKEZA, OWEN METSILENG, STEPHEN DIAZ und RODRIGO FERREIRA (lyrischer Gesang), JOÃO BARRADAS (Akkordeon), KOJACK KOSSAKAMVWE (E-Gitarre), NIELS VAN HEERTUM (Euphonium), BOUTON KALANDA, ERICK NGOYA und SILVA MAKENGO (Likembe) sowie MICHEL SEBA (Perkussion)


Weitere Infos siehe auch: http://www.berlinerfestspiele.de


Post an Olaf Brühl

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