60 Jahren
Musikschaffen
unter dem
Union-Jack
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Bewertung:
Seit 2008 gibt es nun schon die WASSERMUSIK, veranstaltet vom Haus der Kulturen der Welt und mit einem jährlich neuen Herkunftsschwerpunkt der MusikerInnen versehen. 2017 feierte man das 10jährige Bestehen der Open-Air-Konzerte auf der Dachterrasse, die bei Wasser von oben in die Ausstellungshalle im Erdgeschoss ausweichen können. Immer stimmungsvoll und für relativ kleines Eintrittsgeld ist das Festival mittlerweile fest im Berliner Sommerprogramm verankert. Mit Surf und Tiki, Donau, Wüste, Pazifik, Karibik oder Mother India reiste man musikalisch mittlerweile auch mindestens einmal um den ganzen Globus. Es war also an der Zeit, mal wieder nach Europa zu blicken. Da sieht es im Moment ja nicht so lustig aus, zumindest was das Politische betrifft. Nicht nur in der Musik hat sich Europa immer wieder auch beim Rest der Welt bedient. Bestes Beispiel dafür ist die Pop-Musik-Nation Großbritannien, nach wie vor großes Vorbild für MusikerInnen weltweit.
Vor zwei Jahren nun hatte eine knappe Mehrheit der Briten in einem Referendum den Austritt aus der EU beschlossen. Von national-konservativen Politikern vorangetrieben und von der britischen Yellow Press befördert, ist der bevorstehende Brexit zum Rückschlag und Trauma der Europabefürworter nicht nur auf der Insel geworden. Trotzdem kein Grund den Kopf in den Sand zu stecken, auch wenn die scheinbar recht kopflosen Austrittsanstrengungen der britischen Regierung alles andere als Zuversicht verbreiten. Die WASSERMUSIK macht nun in diesem Jahr aus der Not eine Tugend und nimmt das Ganze mit Humor. Unter dem ironischen Motto Goodbye UK - and Thank You for the Music widmet sich das kleine Festival rückblickend gut 60 Jahren Musikschaffen unter dem Union-Jack. Was beileibe nicht bei Beatles, Rolling Stones oder den Sex Pistols Halt macht, sondern auch weit über den britischen Inselrand in die Roots-Regionen des musikalischen Commonwealth schaut.
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Zum Eröffnungswochenende der WASSERMUSIK 2018 hatte man aber durchaus Hochkarätiges vom scheidenden Brit-Pop-Eiland geladen. Aber nicht Rest-Oasis oder Blur standen da am Freitagabend auf der Bühne, sondern eine mehrköpfige Big-Band und der Chor der Kulturen der Welt, angeleitet vom Musiker Matthew Herbert, britischer Elektropionier und Produzent so klangvoller Namen wie Björk, R.E.M., John Cale und Yoko Ono. Vor einem Jahr gründete der „Doctor Rockit“ die mittlerweile auf über 150 Mitglieder angewachsene Brexit Big Band und tourt seitdem mit seinem Projekt durch Europa, die musikalische Botschaft der EU-Bleibewilligen verkündend. Bis zum März 2019, dem geplanten Zeitpunkt für den Austritt der Briten aus der EU, soll die Tournee noch andauern. Dann erst folgt eine Plattenveröffentlichung. Wer will, kann auf der Website Matthews Herberts eigene kleine Tonmitschnitte raufladen, die der passionierte Soundtüftler dann zu Samples verarbeiten will. Der Soundtrack des Brexit - eine musikalische Scheidung im ganz großen Stil.
Matthew Herbert hatte man zuletzt 2015 beim Pop-Kultur-Festival in Berlin erleben können. Da war von einem bevorstehenden Brexit noch kaum die Rede. Seit dem hat Herbert nicht nur den EU-Austritts-Artikel Nr. 50 als soulige Trauerhymne vertont, sondern auch das musikalische Einheitsgefühl gegen den nationalen Backlash in eine jazzige Big-Band-Form gegossen, was er und seine MitstreiterInnen nun auf das begeisterte Publikum übertrugen. Da wurde das Zerreißen der Boulevard-Zeitung Daily Mail zelebriert und musikalisch gesampelt sowie Botschaften der britischen EU-Befürworter als Papierflieger ins Publikum geschossen. Rückantworten ausdrücklich erwünscht. Die Antwort auf Herberts Stay-or-Leave-Frage erklang ebenso viel- wie einstimmig in die Nacht.
Supported wurde der Auftritt von Matthew Herberts Brexit Big Band von einer weiteren fast vergessenen britischen Musiklegende. Unter dem Künstlernamen Lawrence betreibt der 1961 geborene Engländer Lawrence Hayward seit 1979 Bands wie Felt, Denim und seit 1999 seine jetzige Formation Go-Kart Mozart, die sich einer ganz speziellen Richtung des Glam Rock verschrieben hat, die sich allerdings musikalisch wie auch im Outfit kaum an den opulenten britischen Vorbildern wie Garry Glitter oder T. Rex orientiert. Lawrence ist vom Auftreten her beileibe kein Marc Bolan, eher ein blasser Dark-Waver der 1980er Jahre, in denen er mit Felt auch in diesen musikalischen Gefilden zu Hause war. Go-Kart Mozart zauberten dann aber kleine melodiöse Pop-Perlen mit schräger Keyboardbegleitung, die zwar textlich auch von Depression und prekären Verhältnissen berichteten, aber klanglich ganz gut den Teppich für Matthew Herberts euphorischen Big-Band-Sound breiteten.
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Der Samstagabend stand dann ganz im Zeichen des Dub. Adrian Sherwood, Begründer des berühmten Plattenlabels On-U Sound Records, ist so etwas wie der britische Wegbereiter dieser in Jamaika entstandenen elektronischen Weiterentwicklung der in den 1960 und -70er Jahren aus der Karibik nach Großbritannien geschwappten Reggae-Music. Bei einem Besuch in den USA fusionierte er für einige Musik-Projekte mit der New Yorker Band Little Axe, bestehend aus Gitarrist und Sänger Bernard Alexander alias Skip McDonalds, dem Bassisten Doug Wimbish und dem Schlagzeuger Keith Le Blanc, ihrerseits bekannte Meister des Blues, Funk, Dub und Hip-Hop. Diese vibrierende Mischung verstärkt durch die Sample-Kunst von Adrian Sherwood an den Turntables heizte die von der aus Bristol stammenden Sängerin Eva Lazarus durch Drum-’n’-Bass und souligen Hip-Hop schon bestens vorbereitete Stimmung auf der Dachterrasse des HKW nach einer kleinen Abkühlung durch einen kurzen Gewitterguss wieder enorm an. Ein weiteres musikalisches Eröffnungs-Highlight dieser noch bis zum 18. August immer an den Wochenenden stattfindenden WASSERMUSIK, die durch eine Reihe ausgewählter britischer Kultfilme flankiert wird. Fazit: Unbedingt besuchenswert.
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Das ist Eva Lazarus im Berliner Haus der Kulturen der Welt bei ihrem Auftritt in der WASSERMUSIK 2018. | Foto (C) Stefan Bock
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Stefan Bock - 31. Juli 2018 ID 10821
Weitere Infos siehe auch: http://www.hkw.de
Post an Stefan Bock
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