Triumph eines
Neunzigjährigen
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Bewertung:
Ob der nicht nachlassende Lärm über das Wunder der Elbphilharmonie, der diese zumindest in den Rang der Cheops-Pyramide oder des Taj Mahal erhebt, ein Ergebnis ihrer angeblichen, wenngleich von manchen bezweifelten unübertrefflichen Akustik ist? Man könnte meinen, er wolle die massiv zutage getretene Unfähigkeit bei der Kalkulation und der Ausführung dieses stadtstaatlichen Repräsentationsbaus vergessen machen. Wie wohltuend nimmt sich dagegen die Zurückhaltung bezüglich der architektonischen und akustischen Vorzüge etwa der Kölner Philharmonie oder des Kultur- und Kongresszentrums Luzern aus. Das Klischee von der hanseatischen Bescheidenheit jedenfalls trifft bei einem Vergleich nicht zu.
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Ist es Bescheidenheit, wenn auf dem Programmheft steht: „Christoph von Dohnányi dirigiert Tschaikowsky“? Zuvor nämlich dirigiert der neunzigjährige langjährige Leiter des NDR Sinfonieorchesters, das sich jetzt NDR Elbphilharmonie Orchester nennt, sitzend Charles Ives und György Ligeti. Die Titelung bestätigt und befestigt eine Bewertung auf Kosten des 20. Jahrhunderts. In der etablierten Hierarchie steht, jedenfalls bei dem Publikum, das man in die Elbphilharmonie locken will, Tschaikowski (oder meinetwegen Tschaikowsky) oberhalb von Ives und Ligeti.
Dabei demonstriert Dohnányi überzeugend, dass Ives bei uns immer noch ein zu Unrecht unterschätzter und Ligeti ebenso zu Unrecht ein Komponist für Freunde der Avantgarde ist. Die Zusammenstellung ist klug. Ligetis Doppelkonzert für Flöte, Oboe und Orchester von 1972 klingt wie eine Antwort auf die nur 8minütige Komposition The Unanswered Question von Charles Ives. Beide Stücke heben pianissimo im langsamen Tempo an, beide Stücke leben vom Dialog zwischen Bläsern und Streichern (bei Ligeti ohne die Violinen), beide entwickeln in der aphoristischen Kürze eine fast beklemmende Dichte und eine rhetorische Dynamik. Dabei ist bemerkenswert, wie die Flöten des Orchesters bei Ligeti mit der Soloflöte – gespielt von Henrik Wiese, der für Luc Mangholz eingesprungen ist, mit dem ersten Solo-Oboisten des Elbphilharmonie Orchesters Kalev Kuljus an seiner Seite – interagieren. Das Programmheft zitiert Ligeti: „Konzert bedeutet für mich: ein oder mehrere Instrumente extrem virtuos geführt in struktureller Verbindung, in strukturellem Zusammenwachsen mit anderen Instrumenten oder mit einem homogenen Hintergrund wie eine Orchesterbegleitung.“
Für Tschaikowski wechselt das nunmehr große Orchester zur deutschen Aufstellung mit den Kontrabässen und Celli auf der linken Seite des Podiums. Dohnányi dirigiert die bekannte Pathétique als Zelebration der großen emotionalen Bewegungen. Faszinierend, wie er im dritten Satz immer neue Anläufe nimmt zur Ausgestaltung und Steigerung des einprägsamen Marschmotivs, das an das zwei Jahre nach der Symphonie entstandene russische Arbeiterlied Brüder, zur Sonne, zur Freiheit erinnert, das wiederum auf ein älteres Lied zurückgeht. Ja, „von Dohnányi dirigiert Tschaikowsky“. Aber er dirigiert auch Ives und Ligeti. Danke!
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Das NDR Elbphilharmonie Orchester in seiner Hamburger "Residenz" | Bild: Nikolaj Lund / NDR
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Thomas Rothschild - 18. Januar 2020 ID 11938
NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER (Elbphilharmonie Hamburg, 17.01.2020)
Charles Ives: The Unanswered Question / Two Contemplations Nr. 1
György Ligeti: Konzert für Flöte, Oboe und Orchester
Piotr I. Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 Pathétique
Henrik Wiese, Flöte
Kalev Kuljus, Oboe
NDR Elbphilharmonie Orchester
Dirigent: Christoph von Dohnányi
Weitere Infos siehe auch: https://www.elbphilharmonie.de
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