A*popo*kalypse
Neues Stück, andere Location: tutti d*amore gastieren mit MAGNA MATER im Zirkus Mond
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Bildquelle: zirkusmond.de
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Bewertung:
tutti d*amore prangt in diversen Farben auf dem Asphalt, womit das Berliner Kollektiv für zeitgenössische Oper*ette sein Publikum quasi am S-Bahnhof Greifswalder Straße in Empfang nimmt. Die bunten Logos weisen nämlich den Weg in ein grünes Areal der alternativen Kulturszene, in welchem ein Grand Chapiteau versteckt ist. Ich schaue, stutze, staune: Der Zirkus Mond ist ein magischer, ja, wahrlich überirdischer Ort. Allein schon mit der Wahl dieser Location wird die Truppe ihrem Credo gerecht, in die Jahre gekommenes Musiktheater einer rigorosen Frischzellenkur zu unterziehen.
Ich nehme auf einem Barhocker Platz, gegenüber sitzt das zehnköpfige Orchester [Namen s.u.], hinter mir knattert die Popcornmaschine. Die neue Produktion von tutti d*amore entpuppt sich als Stück im Stück oder treffender: als feministisches Festspiel im Spiel. Und wie es sich für Festspiele gehört, startet Magna Mater mit dem Einzug der (verspäteten) Gäste, die gleich als Wölkchenchor herhalten müssen - ob sie wollen oder nicht. Auftritt von Festspielchefin Mrs. Klappstuhl (göttlich: Gina May Walter)! Sie begrüßt die “Ladies and … Ladies” in der Manege, präsentiert zwei Tenöre in Käfighaltung und kündigt DAS Werk zum Ursprung des matriarchalen Imperiums an - Franz von Suppés Operette Die schöne Galathée. Klingt crazy? Nun, es ist ziemlich abgefahren. Pygmalion (Ferdinand Keller) stapelt sich die Traumfrau aus Bauklötzen zurecht; Ludwig Obst (als Mydas) singt im Falsett, trägt seine Haut zu Markte und kann als “Prototyp Nr. 2” (alter, weißer Mann) dennoch nicht bei Galathée (Stella Hanbyul Jeung) landen, und Mrs. Klappstuhl herself gibt die unrasierte, goldärmelige Venus - als die Melissa McCarthy der Mythentravestie.
Im ersten Intermezzo wird eine populäre Zirkusnummer auf den Kopf gestellt: Statt eines maskulinen Messerwerfers schleudert Mrs. Klappstuhl drei Klingen auf einen ängstlich dreinschauenden Kerl. Später werden riesige Klöten gemolken (Caroline Schnitzer macht aus dieser Nummer ganz großes Kino), X-Chromosome aufbereitet und die simple Anatomie des männlichen Körpers untersucht. Die augenzwinkernde Botschaft lautet: Männer sind schwanztragende, dauergeile Dünnbrettbohrer, Stereotypen aus der gar nicht guten, alten Zeit. Genau jene treten pünktlich zum 2. Teil - Paul Linckes Lysistrata - in einen Melkstreik, um gegen die weibliche Unterdrückung zu rebellieren. Hier fliegt der Abend aus der Spannungskurve, was vor allem an Tante Operette liegt, die sich geschickt zur Wehr setzt, wenn sie ihres Humors beraubt wird. Die Regie (Anna Weber) verlagert den Fokus vom Zwerchfell auf den erhobenen Zeigefinger, um es sich im apokalyptischen, cool klingenden Finale (Komposition: Maria Solberger) ein bissl zu einfach zu machen. Was erwartet uns denn hinter dem grellen Licht, wo das Geschlecht keine Rolle mehr spielt? Die ewig andauernde Glückseligkeit? Das langsame, aber sichere Ende? Oder werden wir uns dort als identitätslose Zombies nur ganz schrecklich langweilen? Auf der hiesigen Seite ist das definitiv nicht der Fall. Der Saal tobt.
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Magna Mater von tutti d´amore | Foto (C) Matthias Pfänder
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Heiko Schon - 1. August 2021 ID 13061
MAGNA MATER (Zirkus Mond, 29.07.2021)
Oper*ette. Apokalypse.
Musikalisiche Leitung und Arrangements: Paul Heller
Regie und Konzept: Anna Weber
Bühne und Kostüme: Tatjana Reeh
Dramaturgie: Deborah Meier
Tontechnik: Fraser Bowers
Licht: Yannis Hahnemann
Sound Design: Maria Solberger
Mit: Gina May Walter und Stella Hanbyul Jeung (Sopran), Caroline Schnitzer (Mezzosopran) sowie Ferdinand Keller und Ludwig Obst (Tenor)
Orchester: Angelika Wirth, Javier Aguilar Bruno, Lorenz Blaumer, Frauke Farwick, Inga Sander, Marta Carvalho Foley, Raphael Salaün, Yuriy Nepomnyashchyy, Sonja Engelhardt und Minhye Ko
Heart Chor Berlin / Oh My Choir
Chorleitung: Danilo Timm
Premiere war am 29. Juli 2021.
Weiterer Termin: 13.8.2021
Eine Produktion von tutti d*amore
Weitere Infos siehe auch: https://zirkusmond.de/show/7
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