Lausitz Festival | 24.08. - 14.09.2024
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Jagos
Theater-
Puzzle
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Bewertung:
Das LAUSITZ FESTIVAL, ein von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördertes länder- und spartenübergreifendes Ereignis, „hat (seit dem Jahr 2020) den Auftrag, den Strukturwandel im heutigen Revier mit internationalen Kunstbeiträgen zu begleiten“. Zu lesen ist das auf Festival-Website und wird seine Richtigkeit haben, ich will hier aber nicht von Kulturpolitik berichten, sondern von einem theatralen Erlebnis sondergleichen.
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Weißwasser. Für Dresden ist das finsterste Provinz, für Berlin erst recht, von dort aus ist ja auch Dresden Provinz, wenn vielleicht auch nur im Halbdunkel. Und ausgerechnet dort, wo der Hauptstädter, ob nun Bund oder Land, glaubt, hier könne ihn nichts überraschen, platzt eine Theaterbombe, die die Sprengkraft eines Lösch, die Entrücktheit des Hartmann jr. und eine Perfektion, für die der Rasche Großgeräte braucht, in sich vereint, dass man den Mund nicht mehr zubekommt vor Staunen. Und dann bettet sich das alles noch wunderbar in die Hallen der hoffnungsvollen Glasindustriebrache TELUX ein, es ist ein lauer Sommerabend, es gibt ein Buffet für alle nach der Premiere (in Dresden hab ich das zuletzt bei Holk Freytag erlebt, und das ist wirklich sehr lange her) – perfekt. Aber wie kam das?
"Shakespeares Meisterwerk über zerstörerische Wut und die tödlichen Beziehungen zum Anderen und ein erst seit wenigen Jahren dem englischen Dramatiker zugeordneter Text werden als immersives Stationendrama [...] in Szene gesetzt" (Quelle: Programmheft).
So nüchtern kann man das sehen, aber man kann auch ein bisschen mehr erzählen.
Prolog im Vorraum
Götz Schubert – hier als Platzanweiser – schichtet die Menschen lautstark in die enge Örtlichkeit, bis wirklich alle drin sind. Währenddessen steht einer (Tom Gramenz), den wir gleich als Cassio kennenlernen werden, streng blickend auf einem niedrigen Podium, während auf der anderen Seite eine (Evi Filippou) sirenengleich etwas singt, was ich dem Sorbischen zuordne und folglich nicht verstehe. Aber schön ist es. Skriptgetreu sind wir nun auf Zypern, der, weil der Türke aus technischen Gründen im Meer ersoff, ohne Schlacht erfolgreiche Feldherr Othello wird zu einer Siegesfeier erwartet. Er lässt auf sich warten, die Zeit nutzt Jago, den wir nun als Götz Schubert erleben, um besagten Cassio mit Alkohol soweit zu derangieren, dass der dem endlich erschienenen Helden nebst weiblichem Gefolge vor die Füße kotzt. Karrierefördernd ist das nicht, aber immerhin steht er das gräuliche Gegeige des Generalissimus durch, was mildernde Umstände bringt. Die weiteren Figuren (Linn Reusse als Desdemona, Dagna Litzenberger Vinet als Emilia, Sina Kießling als Brabantia) sind eingeführt, es kann nun richtig losgehen.
In einem langen Marsch passiert das Publikum endlose Gänge, zur Pufferzone ausgebaut, erinnert euch, wir sind in Zypern. Dann wird die Menge gedrittelt, jeder Teil sucht eine andere Spielstätte auf, der Berichterstatter war in der gelben Gruppe, was die Reihenfolge der nächsten Kapitel erklärt. Aber eigentlich isses egal.
Das Theater-Puzzle I – In Jagos Bar
Dort heult genannter Schurke zunächst seinen Karriere-Frust bei der ihm angetrauten Emilia aus. Die Alkoholattacke hat nichts genutzt, Cassio hat dennoch den begehrten Leutnantsposten bekommen. Emilia bleibt in dieser Szene nur Stichwortgeberin für den großen Schubert, aber zum Glück wird das später nicht zur Regel. Immerhin hat sie danach einen fabelhaften Auftritt als Femme fatale et suicitale, und Cassio und Desdemona schauen auch mal vorbei. Bei dieser Gelegenheit erbeutet sie ein Tüchlein, von dem noch zu reden sein wird.
Man muss dabei wissen, dass an den anderen beiden Spielstätten die Geschichte parallel weiterläuft, jeweils in kleinen Sequenzen zeitversetzt und gut durchmischt. Das heißt, die Handlung wandert in ihrem Fortschreiten ständig zwischen den drei Orten, was auch die Darstellenden zum Wandern bzw. Rennen bringt. Das ist logistisch anspruchsvoll, weil alle irgendwie gleichzeitig überall zum Spiele gebraucht werden, aber es funktioniert auf wundersame Weise. Bei Götz Schubert denkt man manchmal an den Chefarzt, der parallel in drei Sälen operiert, aber den anderen geht es nicht besser. Es ist eine große Hatz, aber dem Theatererlebnis schadet das nicht, im Gegenteil, es gibt ganz neue Spannungsbögen.
Das Theater-Puzzle II – Desdemonas Kammer
Die junge Dame ist hier nicht nur von Beruf Tochter, sondern hat sich der Malerei verschrieben. Die Kammer wird deshalb auch als Atelier genutzt, Malen nach Zahlen ist in diesem Fall Malen nach projizierten Bildern, das ist schön anzuschauen. Das Zwischenmenschliche mit Othello wird vor allem hier abgehandelt. Bekanntlich ist jener, obgleich im hohen Amte, trotzdem der Mohr, dessen Abgang nach getaner Schuldigkeit sich einige wünschen. Eine standesgemäße Heirat ist er jedenfalls nicht, und auch die Manieren lassen zusehends zu wünschen übrig. Das erwähnte Tüchlein wird hier von ihm der Dame übereignet und später dann von ihm schmerzlich vermisst, die Indizienkette schließt sich. Dabei sind Desdemona und Cassio nur Freunde aus Kindertagen, „plus“ wird nirgendwo ersichtlich, aber wenn einer wie Jago die Fäden zieht, reicht ein wanderndes Tüchlein für die Gewissheit beim Choleriker Othello aus. Er wird zum Messer-Mann und erdolcht die Schöne im Toi-Toi in der großen Halle, aber das ist dann schon sehr am Ende der Geschichte. Teil 3 muss ja auch noch absolviert werden.
Zusammengehalten wird das Ganze übrigens – Überraschung – von Musik, für die neben der erwähnten Evi Fillipou vor allem Christoph Bernewitz verantwortlich zeichnet. Und das auf großartige Weise, mal aus der Ferne, mal direkt als Begleitung zu Gesang. Den schönsten von allen liefert Linn Reusse, eine herzzerreißende Fassung des durch Kurt Cobain weltbekannt gewordenen Eifersuchtssongs, der dem Bericht hier den Namen gab. Sie erstellte zudem die Video-Kunst, die bei einem Ausflug aus Teil 1 und beim Epilog zu bewundern ist, und drückt damit der Inszenierung auch ihren Stempel auf.
Das Theater-Puzzle III – Die Villa der Brabantia
Noch einmal ein Wechsel der Örtlichkeiten. Der Herrscher von Venedig ist hier eine Dame reiferen Alters, mit körperlichen Gebrechen gestraft, aber noch nicht ganz dem Leben abgewandt. Als Mutter der D. ist sie not amused über deren Verbindung zum Schwarzen und lässt sich willig in die Ränke des Jago einspannen. In ihrer Villa ist der Mittelpunkt der zyprischen Besatzer-Welt, alle müssen mal vorbeischauen und ihre Aufwartung machen. Leonard Burkhardt als Othello findet nun endlich Erwähnung, was nicht nur, aber auch an seinem dreifachen Zweieinhalbmetersprung auf Beton liegt, bei dem unsereiner schon vom Zuschauen Rücken bekommt. Schauspielerisch ist er ebenso auf Olympianiveau, ein weiterer Akteur, der auf der Inszenierung deutlich sein Zeichen hinterlässt.
Epilog – Die Fremden
Die Geschichte bedarf eines Abschlusses, Othello muss sich in Erkenntnis seiner Untat noch selbst richten. Das findet auch statt, ist aber eingebettet in etwas Größeres. Regisseur Marcel Kohler hat einen sozusagen neuen Text von Shakespeare eingefügt, Die Fremden, die Zueignung zum Dramatiker erfolgte wohl erst vor wenigen Jahren. Und dieser Text ist sowas von aktuell, dass sich einem die Haare sträuben. Wie konnte der Mann wissen, womit wir uns heute herumplagen? Was ein Großteil der Bevölkerung partout nicht begreifen will, ist schon vor mehr als 400 Jahren hinreichend erklärt worden, Thomas Morus in den Mund gelegt, aber auch jetzt, da das Pack „Abschieben!“ und „Remigration!“ plakatiert, weiter gültig: Wir sind alle Fremde, fast überall.
Dass die Deklamation dieses wirklich berührenden Textes Jago anheimfällt, hat personelle Gründe. Es ist nun an der Zeit, den unbestrittenen Star des Abends zu bejubeln: Götz Schubert ist omnipräsent, sein Jago ist ein Ausbund von Niedertracht, der das Publikum zum Komplizen macht und die Mitspielenden sowieso. Jede*r agiert in der von Jago zugedachten Rolle, er zieht die Fäden und hat alles unter Kontrolle. So fällt ihm auch folgerichtig der Volkstribun zu, mit dessen Rede er sich in der Stückfassung von Kohler zum Herrscher aufschwingt. Alles andere wäre Schönfärberei.
Aber welches Volk ist das eigentlich, zu dem er da spricht? Der vierte Stempel auf dem Stück gehört ganz eindeutig dem Stadtchor Weißwasser e.V. unter der Leitung von Lars Deke. Zu Beginn des Epilogs schält sich der Chor behutsam aus dem Publikum hervor, zieht es in den großen Saal und wird dann zum Volk von Zypern, das sich in Jubel für Jago ergeht. Aber das ist nicht der Höhepunkt: Nachdem die Schauspielerei ihre Arbeit getan hat, erklingt ganz zart und später anschwellend ein Gesang voller Schönheit und Besinnung. Die Poesie des Augenblicks ist noch da, wenn der Vorhang lange gefallen ist, und wird erst vom frenetischen Jubel des Publikums abgelöst. Der dauert ungelogen eine Viertelstunde, auch das hab ich lange nicht erlebt.
Ein fünfter Stempelgeber soll noch erwähnt werden. Die – wenn man so will – Bühne, das labyrinthische Ensemble ehemaligen Glasmacher-Handwerks, wird von Torsten Köpf (der auch die Kostüme entwarf) in einen Spielraum verwandelt, der den Darstellenden alle Möglichkeiten gibt, aber auch Höchstleistung einfordert. In dieser Form ist das Stück nicht denkbar ohne diesen Ort.
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Othello/ Die Fremden beim LAUSITZ FESTIVAL 2024 | Foto (C) Sandro Zimmermann
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Festivalintendant Daniel Kühnel hält bei der Premierenfeier eine mehr als warmherzige Rede, in der er auch alle würdigt, die hier nicht genannt wurden. Es war ein Abend, den man öfter erleben möchte, selbst wenn das Festivalprogramm nur zwei weitere Aufführungen (am 27. und 28. August) vorsieht. Aber wer weiß? Ein Stück dieser Brillanz findet vielleicht auch anderenorts eine Heimat, an die es sich anpassen kann und muss.
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Sandro Zimmermann - 27. August 2024 ID 14885
OTHELLO / DIE FREMDEN (Danner-Halle, TELUX-Gelände, Weißwasser O.L./ Běła-Woda - 25.08.2024)
in einer Fassung von Marcel Kohler
Regie: Marcel Kohler
Bühne und Kostüme: Torsten Köpf
Licht: Henning Streck
Video: Linn Reusse
Musik: Christoph Bernewitz
Besetzung:
Othello ... Leonard Burkhardt
Jago ... Götz Schubert
Desdemona ... Linn Reusse
Emilia ... Dagna Litzenberger Vinet
Brabantia ... Sina Kießling
Cassio ... Tom Gramenz
Evi Filippou (Schlagzeug, Vibrafon)
Stadtchor Weißwasser e.V.
(Chorleitung: Lars Deke)
Premiere war am 25. August 2024
Weiterer Termin: 28.08.2024
LAUSITZ FESTIVAL 2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.lausitz-festival.eu
Post an Sandro Zimmermann
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