Ein mahnendes
Abbild der
Zivilisation
ANTHROPOLIS I - V am Deutschen Schauspielhaus Hamburg
|
ANTHROPOLIS V: Antigone - am Deutschen Schauspielhaus Hamburg | Foto (C) Thomas Aurin
|
Bewertung:
Am Ende bleibt nichts als Staub übrig, zerstört die Stadt Theben, von hochmütigen Männern und schicksalshaften Konstellationen. Im letzten Teil von ANTHROPOLIS, einer Nachdichtung von Sophokles’ Antigone [s. Foto o. re.], ist es allerdings die Titelheldin, die die weißen Betonsteine gegeneinanderschlägt, aus denen die Stadt gebaut wurde, um mit dem Staub ihren Bruder Polyneikes zu begraben. Und so bleibt am Ende, wie schon am Anfang, nur eine staubige Straße. Zwischendurch knapp acht Stunden Theater, voller Leben, voller Verzweiflung, voller großer Themen und mit hervorragenden Schauspielenden.
Ein gewaltiges Projekt markiert das zehnjährige Jubiläum von Intendantin Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg: In kurzer Abfolge von wenigen Wochen hatten zu Beginn der Spielzeit fünf Inszenierungen von antiken Stücken Premiere, die von Dramatiker Roland Schimmelpfennig bearbeitet wurden. Ihnen gemeinsam: Alle handeln von der Stadt Theben, damals quasi als mahnendes Vorbild für die Bürger Athens, heute für alle, die es hören wollen.
Schimmelpfennigs Überarbeitung der antiken Stücke ist dort am stärksten, wo er am wenigsten Material vorfindet, etwa in Laios und Iokaste [s. Foto unten]. Hier kann er am überzeugendsten als Autor gestalten: Laios als Monolog, in dem Lina Beckmann furios in verschiedenste Rollen schlüpft, und Iokaste als ständige Wiederholung eines versuchten Friedensgesprächs, bei dem die Mutter Iokaste (Julia Wieninger) zwischen den verfeindeten Söhnen Eteokles (Maximilian Scheidt) und Polyneikes (Paul Behren) zu vermitteln sucht.
Den Auftakt macht eine Art Doppelstück: ein Prolog, in dem die Stadt Theben mühevoll aus Staub und Dreck symbolisch errichtet wird, und ein Abend über den griechischen Gott Dionysos (Carlo Ljubek), der mit dem Makel kämpft, möglicherweise gar nicht von Zeus abzustammen. Das lässt ihn mit aller Vehemenz seine vermeintliche Gottheit einfordern und alle abstrafen, die nicht an ihn glauben. Die Frauen der Stadt ziehen ins Gebirge, um ihn zu feiern, was die Herren der Stadt, allen voran Herrscher Pentheus skeptisch beobachten. Was kann man wissen über die Geschichte, und ist es vielleicht nicht doch ganz anders gelaufen? Was treiben die Frauen, was ist Gerücht, Hörensagen, was Wahrheit? Carlo Ljubeks Dionysos präsentiert sich mit Maske, Schminke und Kostüm, wandelbar, mitten im Leben. Keine Mauern können ihn halten. Kristof Van Bovens Pentheus dagegen ist herrlich steif, umständlich und ganz in seiner Rolle gefangen; er ringt um Größe, doch dabei kann ihm selbst das Pferd nicht helfen, auf dem er sitzt.
Dionysos und Pentheus streiten um den Vorrang von Rausch oder Vernunft. Auch das ein Thema, das sich bis zum letzten Teil Antigone durchzieht, als Ernst Stötzner als vernunftbegabter König Kreon seine Nichte Antigone mit einem unmenschlichen Urteil dafür bestraft, dass sie um ihren Bruder trauert, der als Verräter von Theben gestorben ist. Solche Vernunft lässt dann vielleicht doch eher verzweifeln.
Im zweiten Teil von ANTHROPOLIS kommt am Samstagnachmittag König Laios zu Wort, der u.a. als Vater von Ödipus seinen Teil zur Mythologie beigetragen hat, aber nicht nur er. Lina Beckmann schlüpft auf beeindruckendste Art und Weise in verschiedene Rollen, vom Chorführer bis zum titelgebenden Protagonisten.
Ödipus ist das Zentrum des dritten Teils. Im Vergleich zu den vorherigen beiden Stücken ist dieser Abend sehr viel dichter, dunkler, es gibt weniger Verweise auf die Geschichte Thebens, die die Zuschauenden bis zu diesem Zeitpunkt schon erlebt haben. Und Ödipus zeigt, welch beindruckendes Stück Sophokles vor tausenden von Jahren gelungen ist: Der unschuldig Schuldige, der nach und nach das Rätsel seiner Vergangenheit entschlüsselt und dadurch gebrochen wird. Schließlich geht er an Krücken und gemahnt dabei auch an die Sphinx und ihr unerbittliches Rätsel, das Ödipus gelöst und so die Stadt Theben von ihrem Bann befreit hat. Devid Striesow gibt Ödipus mit aller Kraft, die möglich ist. Das ist kein strategischer Denker, sondern durch und durch ein zunehmend gegen sich selbst Wütender.
An Krücken läuft auch Iokaste, Ödipus’ Frau, als sie sich im vierten Teil von ANTHROPOLIS einer ausweglosen Situation gegenübersieht. Sie zieht sich gewissermaßen kurzzeitig ein Stück ihres Mannes über, um Hilfe zu suchen: Ihre und Ödipus’ Söhne kämpfen um die Herrschaft in Theben. Unversöhnlich stehen sie sich gegenüber und werden alles mit sich ins Verderben reißen, darunter auch die Mutter, die sich angesichts beider Tod zu den Leichen legt und stirbt. In Iokaste dominiert die Form der Wiederholung: Wieder und wieder kommt es zu Friedensgesprächen, aber weder Eteokles noch Polyneikes wollen einen Deut von ihrer Position abweichen. Das ist verstörend aktuell. Eteokles baut die Mauern höher, Polyneikes reißt sie wieder ein. Maximilian Scheidt und Paul Behren geben das Brüderpaar als kraftstrotzende Kämpfer, die beide gute Argumente für sich anführen können. Julia Wieninger macht ergreifend Iokastes komplexes Schicksal greifbar: den Sohn ausgesetzt und später von ihm Kinder geboren, die sich jetzt hassen. Auch das übrigens ein großes Bonus dieses Zyklus: Die einzelnen Werke und Geschichten stehen nicht für sich, sondern werden in einem großen Bogen erzählt, der zugleich zeigt, dass es nicht so einfach ist, ein abschließendes Urteil über das Verhalten anderer zu fällen, dass man die Zusammenhänge kennen sollte. Und dass man dennoch einen Ausweg aus dem ewigen Kreislauf von Wut und Verletzung, Rache und Vergeltung finden muss.
Dass das aber alles andere als leicht ist, zeigt Antigone, wo König Kreon, Iokastes Bruder, in Theben regiert. Jahrelang zuverlässiger Zweiter im Staat, ist er jetzt endlich an der Macht, wenngleich auch ein wenig wider Willen. Ernst Stötzner gibt Kreon als an sich selbst verzweifelnder Herrscher, zugleich der Letzten seines Geschlechts, der doch versucht, alles zusammenzuhalten. Aber das Bemühen, besonnen und vernünftig zu sein, dem alten Glauben und den Traditionen abzuschwören, führt zu einer unmenschlichen Tat, deren Unsinnigkeit er zu spät erkennt. Mit Antigone, von Lilith Stangenberg sehr intensiv und geradezu kreatürlich gespielt, kommt er nicht zurecht, ihre Art, zu trauen, überfordert ihn. Da kann ihm auch sein Berater nicht helfen, der von Ute Hannig mit Ruhe, aber auch Eindringlichkeit verkörpert wird. Alles gerät aus den Fugen, als sich auch ihre Schwester Ismene (Josefine Israel) und sein eigener Sohn Haimon (Maximilian Scheidt) gegen ihn stellen. Und so nimmt die Geschichte Thebens kein gutes Ende, wie der von Michael Wittenborn gespielte Seher Teiresias vermutlich von Anfang an geahnt hat. Auch er ein Sinnbild der wechselnden Moden in der griechischen Stadt: Gelegentlich wird sein Rat gesucht, aber nicht gerne gehört. Dann wieder wird er vertrieben, weil die Zeit für Seher vorbei ist.
Es sind interessanterweise die Frauen, die in ANTHROPOLIS den stärksten Eindruck hinterlassen. Vielleicht weil bisher ein männlicher Blick dominierte, etwa wenn die Bacchantinnen als rasende Furien beschrieben werden, die Männer zerfleischen. Schimmelpfennig lässt in seiner Bearbeitung durchblicken, dass es vielleicht auch ganz anders gewesen sein könnte. Sie ergreifen als Figuren die Initiative, wollen Traditionen bewahren, nicht länger einfach nur Opfer sein. Wobei es dann doch ambivalent ist: Iokaste ist es, die Ödipus als Kind zusammen mit ihrem Mann Laios in das ferne Gebirge bringen lässt, um ihn dort seinem Schicksal zu überlassen. Der Rest ist bekannt. In Iokaste ist sie es, die durch Verhandlungen einen Bruderkrieg verhindern möchte – vergeblich.
Es sind aber auch die Schauspielerinnen, die nach allen fünf Aufführungen besonders im Gedächtnis bleiben, womöglich, weil sie unverschämterweise zudem männliche Rollen usurpieren: von Lina Beckmann in ihren verschiedensten Rollen über Julia Wieningers Iokaste, Lilith Stangenbergs Antigone und Josefine Israels Ismene bis hin zu König Kreons Berater in Antigone, von Ute Hannig mit Ruhe und Eindringlichkeit verkörpert. Und es ist Karin Neuhäuser, die Ödipus mit einem grandiosen Monolog eröffnet. Sie hält mit einer unglaublichen Präsenz, die zu Recht bejubelt wurde, als Priesterin die alten Rituale und Sitten aufrecht und umkreist Ödipus als eine Art Gegengewicht auf der Drehbühne.
*
ANTHROPOLIS I - V ist ein großer Wurf. Im Detail ist manches vielleicht zu sehr auf Effekt inszeniert, etwa der Chor im Publikum bei Ödipus, die Trommel auf der Bühne in Dionysos, und gelegentlich ist das Verhältnis von Humor und Tragik nicht gut ausbalanciert. Es macht Sinn, wenn Daniel Hoevels’ Menoikeus in Iokaste kurz vor seinem Freitod, mit der er die Stadt Theben vor einem Bürgerkrieg bewahren soll, darüber nachdenkt, dass er und sein Vater Kreon auf die gleiche Art Spaghetti essen – nur um dann festzustellen, dass alle Menschen auf diese Weise Spaghetti essen. Oder wenn Jan-Peter Kampwirth den Wächter Skopos in Antigone darüber lamentieren lässt, dass Boten nie gute Karten haben, wenn sie schlechte Nachrichten überbringen. Vor allem an den beiden ersten Abenden Prolog/Dionysos und Laios ist es manchmal zu viel der Komik, der Parodie, der ironischen Distanz zum Geschehen, da hier zum Teil noch die tragische Grundierung fehlt, von der sie sich abhebt.
Aber alles in allem ist es eine gewaltige Leistung aller Beteiligten, auf und hinter der Bühne, die in Erinnerung bleiben wird und in der dichten Abfolge der Stücke zeigt, welche Relevanz Theater und gerade auch antike Stoffe heute noch haben können. Der Bühnenraum bleibt bis auf kleine Veränderungen derselbe. Es ist düster in Theben, von Gemütlichkeit keine Spur, stattdessen ein Raum mit hohen Wänden, die in besseren Zeiten golden strahlen, später gänzlich schwarz eingefärbt. Projektionen, die das Bühnengeschehen immer mal wieder als eine Art Schattenriss auf die Wand werfen. Nur in Laios wird kurz die Illusion eines glücklichen Familienausflugs am Strand aufrechterhalten. Aber wie gesagt, eine Illusion auch hier. Einzelne Prospekte, die von oben herunterragen, eine Weltkarte beispielsweise, die irgendwie an ein Mobile in einem Kinderzimmer erinnern. Nur sind die Kinder längst nicht mehr da. Im Hintergrund oftmals Stühle, von denen die Spielenden zu ihrem Auftritt gehen. Ansonsten allenthalben Dreck und Staub, der zwischendurch mühevoll von der Bühne entfernt wird (Bühne: Johannes Schütz).
|
ANTHROPOLIS IV: Iokaste - am Deutschen Schauspielhaus Hamburg | Foto (C) Thomas Aurin
|
Die nächste Marathonreihe im Mai ist bereits ausverkauft, die Stücke sind allerdings auch einzeln im Spielplan zu finden und sind jeweils für sich abgeschlossen erzählt. Man muss also nicht mit dem großen Ganzen starten. Am Schluss aber noch eine Bitte: Ich weiß nicht, wie Spielende es finden, nach der Vorstellung beim Schlussapplaus in zahlreiche hochgereckte Mobiltelefone zu schauen, anstatt in begeisterte Gesichter. Aber ganze Vorstellungsteile abzufilmen ist eine Unart, genauso, wie Nachrichten zu beantworten, wenn das Spiel auf der Bühne längst begonnen hat. Daher, liebes Schauspielhaus: bitte zu Beginn der Vorstellung den Hinweis, die Mobiltelefone einfach auszustellen. Ohne das geht es offenbar nicht mehr.
|
Karoline Bendig - 21. April 2024 ID 14710
ANTHROPOLIS-Marathon (Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 12.-15.04.2024)
Regie: Karin Beier
Bühne: Johannes Schütz
Kostüme: Wicke Naujoks
Licht: Annette ter Meulen
Weitere Termine: 24.-26.05./ 18.-20.10./ 22.-24.11.2024// 17.-19.01./ 07.-09.02.2025
https://schauspielhaus.de/
Post an Karoline Bendig
Freie Szene
Neue Stücke
Premieren (an Staats- und Stadttheatern)
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
DEBATTEN & PERSONEN
FREIE SZENE
INTERVIEWS
PREMIEREN- KRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
URAUFFÜHRUNGEN
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|