Zurückgezogen
bis zur
Sprachlosigkeit
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Isabelle Huppert als Bérénice auf der Ruhrtriennale im Landschaftspark Duisburg-Nord | Foto (c) Jean Michel Blasco
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Bewertung:
Das Einpersonenstück beginnt spannungsvoll-vieldeutig mit einem brutal wechselnden Countdown. Verbunden mit lauten Halleffekten klanglicher Apparate wird ein vom Bühnenhimmel herabhängender weißer Streifen von innen beleuchtet. Dazu werden Elemente wie Calcium oder Magnesium mit Angaben einer bestimmten Zusammengesetztheit eingeblendet. Ein durchsichtiger Vorhang, der über die gesamte Bühne fällt, deutet die Isolation der Protagonistin an. Isabelle Huppert spricht gleichförmig französische Verse, gibt präzise den Sprachduktus und -rhythmus Racines wieder.
Die französische Filmikone hat ihre Wurzeln als Theaterschauspielerin. Sie spielte so u.a. als junge Frau in Sarah Kanes 4.48 Psychosis und erhielt u.a. auch für ihre Darstellung in Virginia Woolfs Orlando zahlreiche Theaterpreise. Der RUHRTRIENNALE-Intendant Ivo Van Hove besetzte sie 2020 als Mutter Amanda für Tennessee Williams Die Glasmenagerie. Sie ist auch dieses Mal ein Coup.
Jean Racines Tragödie Bérénice, 1670 erstmals aufgeführt, ist seit jeher Bestandteil des französischen Lehrplans und gilt als einer der bedeutendsten französischen poetischen Theatertexte. Es beruht auf historischen Fakten, nichtsdestotrotz beschönigt Racine die Geschichte, steigert Emotionen, komprimiert die Zeit, lässt die Psyche der Figuren in neuem Licht erscheinen. Denn auf raffinierte Weise werden Innenwelten der Figuren beleuchtet.
79. n.Chr. kehrt der angehende römische Kaiser Titus nach siegreichem Feldzug nach Rom zurück. Mit dabei ist seine Geliebte Bérénice, eine jüdische Prinzessin aus Kilikien. Er verspricht, sie zu heiraten. Auch sein Freund und Verbündeter Antiochus, König von Kommagene, ist heimlich in Bérénice verliebt. Titus erfährt vom Widerstand des Senats und des römischen Volkes gegen die Heirat mit der Prinzessin. Titus sieht sich gezwungen, auf die Heirat zu verzichten. Er schickt Antiochus, um Bérénice seine Entscheidung mitzuteilen. Bérénice eilt in Titus Gemächer und findet ihn in Tränen aufgelöst vor. Beide sind zutiefst erschüttert. Bérénice verlässt Rom und gibt die gemeinsame Liebe auf.
Als beispielhaft für den Klassizismus gilt, dass Zeit, Ort und Handlung der Tragödie Bérénice einheitlich sind. Regisseur Romeo Castellucci streicht Dialoge und lässt andere Figuren nur als Geister oder Chimären auftreten. Die reale Bérénice (28. n.Chr. geboren) war zehn Jahre älter als ihr Geliebter Titus (39. n.Chr. geboren).
Wenn Huppert von der Bühne tritt, mimen die Models Cheikh Kébé und Giovanni Manzo jungenhaft und mit freiem Oberkörper die in Bérénice verliebten Adligen. Kébé stellt Titus mit angedeuteter Krone dar, Manzo gibt den, Titus verehrenden Freund Antiochus. Kunstvoll langsame Gesten der schlanken Jünglinge sind schön anzuschauen. Bald werden sie umgeben von männlichen Statisten, die allesamt ihre Hüllen fallen lassen. Romeo Castellucci findet hier bizarre Bilder für eine verstörende Männlichkeit, verzerrt und diffus wabert hier ein Begehren, vor deren Hintergrund sich bald wieder Huppert, bald wieder alleine auf der Bühne, als mögliches Objekt bewegt.
Es gibt keine Interaktion zwischen den stumm agierenden Männern und Bérénice. Die Handlung wirkt so sehr reduziert, es passiert wenig. Bérénice erscheint bis zu guter Letzt immobil, gelähmt, fest verortet. Sie verkörpert starke Emotionen im Widerstreit mit dem Verlassen-werden, der Einsamkeit und Liebessehnsüchten, Unsicherheit und dem Unbewussten.
Ihre Verkörperung der tragischen Bürde wird in der Aufführung herausgehoben, da sie ihrem Schicksal scheinbar mit Anmut, Stärke, Zurückhaltung, Stoizismus und Selbstbeherrschung begegnet. Ihre letztendlich zurückhaltende Verzichtshaltung ist respekteinflößend. Huppert deutet in der Rolle der Prinzessin an, dass sie ihre Emotionen unterdrückt. Sie bietet ein Bild von Einsamkeit, Verlassenheit, gegensätzlicher Gefühle. Ihre Präsenz unterläuft teils respekteinflößend tradierten Geschlechterrollen, da in ihrer Unabhängigkeit Stärke liegt und sie nicht von Leidenschaft beherrscht scheint.
In Duisburg verzichtet Regisseur Castelucci auf die üblichen tragischen Mittel, wodurch die Aufführung an Komplexität und die klangliche Dimension an Bedeutung gewinnt. Es herrscht visuell eine surreal traumartige Beleuchtung, welche als ästhetisch ungewohnte Form von Theatralität die Fantasie anregt. Moderne Requisiten betonen die Zeitlosigkeit der Tragödie. Eine schwarze Hundepuppe läutet mit einem Gong. Hupperts Bérénice berührt einen rollenden Heizradiator. Aus einer kurzzeitig auf der Bühne platzierten Waschmaschine zieht Bérénice ein weites und helles Tuch, auf der ein großer Blutfleck prangt, was eine dunkel schicksalsträchtige Atmosphäre schafft; Huppert deutet mimisch ausdrucksvoll Kälte und Gefahr an. Fallende Vorhänge überlagern sich. Blumen fallen in einer Videoprojektion im Bühnenzentrum in sich zusammen, in einem Kleid in ähnlichen Farben und Formen der verwelkten Blüten liegt Huppert am Boden.
Später räuspert sich Huppert, spricht gegen Ende wie bei einer Aphasie oder einem minutenlangen Schlaganfall. Schlussendlich fällt der Vorhang, Bérénice kehrt etwa zeitgleich aufstehend dem Publikum den Rücken zu, beschirmt ihr Gesicht mit ihrem lang ausfallenden Kleid und schreit „Ne me regardez pas“. Ein lautes elektronisches Echo wiederholt diesen Ausruf, technisch verstärkt mit Halleffekten bis zur Unkenntlichkeit.
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Isabelle Huppert als Bérénice auf der Ruhrtriennale im Landschaftspark Duisburg-Nord | Foto (c) Jean Michel Blasco
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Ansgar Skoda - 1. September 2024 ID 14895
BÉRÉNICE (Kraftzentrale, 26.08.2024)
Regie: Romeo Castellucci
Musik: Scott Gibbons
Kostümbild: Iris van Herpen
Kostüme: Chiara Venturini
Bühnentechnik: Andrei Benchea, Stefano Valandro
Lichttechnik: Andrea Sanson
Tontechnik: Claudio Tortorici
Mit: Isabelle Huppert und unter Beteiligung von Cheikh Kébé und Giovanni Manzo
DEA bei der RUHRTRIENNALE war am 25. August 2024.
Weitere Infos siehe auch: https://www.ruhrtriennale.de
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