Körper vor Kunst
|
Anne Teresa De Keersmaeker | © Johan Jacobs
|
Bewertung:
Anne Teresa De Keersmaeker und ihre Kompanie Rosas sind so etwas wie Stammgäste bei der Ruhrtriennale, und das bei wechselnder künstlerischer Verantwortung. 2012 etwa waren En Atendant und Cesena zu sehen, Aufführungen zum Sonnenauf- und Untergang. Auch im Museum war die Kompanie schon häufiger zu Gast, beispielsweise im Louvre. Dieses Mal haben sie in Zusammenarbeit mit dem Museum Folkwang und der Ruhrtriennale erstmalig eine Ausstellung kuratiert, die Gemälde, Skulpturen und Fotografie umfasst.
Die Besucherinnen und Besucher betreten die neun temporären Ausstellungsräume des Museum Folkwang und stoßen in einer Live-Performance auf Tänzer:innen aus De Keersmaekers Kompanie Rosas. Nina Godderis und Synne Elve Enoksen verwickeln ihre Körper vor Rudolf Bellings Skulptur Mensch (Kain und Abel), greifen auf, was die Skulptur darstellt, und entwickeln in aller Langsamkeit und bei maximaler Körperbeherrschung gleichsam einen Kampf und einen Tanz des Ausbalancierens, führen das Motiv quasi weiter.
Es überwiegen die solistischen Momente, die überraschende Einblicke auf die ausgestellte Kunst ermöglichen: Nina Godderis etwa posiert mit nacktem Oberkörper und lediglich mit einer Unterhose bekleidet vor zwei Bildern von Badenden. Oder später vor Édouard Manets Porträt von Faure als Hamlet, dem Werk des Museum Folkwang, von dem die Performance ihren Ausgang nahm. Nassim Baddag dagegen nutzt einen ganzen Raum, den er sich u.a. vor MG 28 von Yves Klein und Oliviero Toscanis United Colors of Benetton/White Black Yellow ertanzt, quasi artistisch auf dem Kopf drehend.
Die meisten Performances finden leise statt, wortlos. Manchmal hört man Schreie, ein Performer wimmert. Weint er, oder lacht er? Aus Lausprecherboxen, die in jedem Raum stehen, ertönt Musik (Alain Franco). Immer wieder an die Barockzeit erinnernde Celloklänge, die zu einem Erkennungsmerkmal der Kompanie geworden ist. Es erklingt aber auch Herbert Grönemeyers „Mensch“ über die Lautsprecher.
Auch hier ist kein Einfühlen möglich, denn oftmals bricht diese Musik ab. Und wenn man sich auf den Weg macht zu dem Ort, von dem die Musik vermeintlich erklingt, sieht man oft nur einen leeren Raum, und das vermeintliche Zentrum der Aufführung findet schon wieder woanders statt. Besser ist es stattdessen sich einfach treiben zu lassen, ohne eine bestimmte Reihenfolge der Räume und ohne Ziel. Das bedarf, zugegebenermaßen, etwas der Gewöhnung. Für zwei, drei Situationen einer Performerin oder einem Performer folgen, sich dann wieder lösen und den eigenen Weg durch die Ausstellungsräume suchen. Es ist auch nicht der Fall, dass ständig etwas passiert. Manchmal reicht es, sich der ausgestellten Kunst zu widmen.
Y, der Titel der Performance, steht für die englische Frage „Warum“ („Why“). De Keersmaeker geht es nach eigener Aussage um das Potenzial von Fragen sowie das Verhältnis von Figuration und Abstraktion, Bild und Bewegung. Ihre Tänzer:innen setzen sich in Zusammenhang zu den ausgestellten Kunstwerken, was dafür sorgt, dass man diese teilweise neu und anders betrachtet beim erneuten Durchgehen. Die eigene Wahrnehmung wird geschärft, man schwankt zwischen der Rolle als Museumsbesucher:in und Performancebesucher:in. Ständig kann etwas Unerwartetes geschehen, jemand auftauchen und etwas Merkwürdiges tun: eine Tänzerin bzw. ein Tänzer oder doch ein Mitbesucher, eine Mitbesucherin? Zugleich fühlt man sich niemals bedrängt, sondern hat als Zuschauende:r die freie Entscheidung, zu verweilen oder weiterzugehen.
In den Ecken der Räume gleichfalls wie Ausstellungsstücke Wechselkleidung und ein Handtuch. Wie lange die Performance dauert, entscheidet jede:r Zuschauende selbst, auch darüber, wo man beginnt und endet und darüber, was man sieht. Ein spannendes Erlebnis, das den eigenen Blickwinkel neu justiert. Nicht das Schlechteste, was man über Kunst sagen kann.
|
Anne Teresa De Keersmaeker, Rosas, Y - Nina Godderis und Synne Elve Enoksenn vor Rudolf Belling Mensch (Kain und Abel), 1918. Eine Auftragsarbeit der Ruhrtriennale in Koproduktion mit dem Museum Folkwang | © VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Foto: Katja Illner / Ruhrtriennale
|
Karoline Bendig - 3. September 2024 ID 14901
Y (Museum Folkwang, 01.09.2024)
Choreographie: Anne Teresa De Keersmaeker
Kreiert mit und performt von: Synne Elve Enoksen, Nina Godderis, Robson Ledesma, Nassim Baddag, Jean Pierre Buré und Solal Mariotte
Musik: Alain Franco
Kostüme Ruhrtriennale: Heike Schick und Melanie Schulte-Holtey
UA war am 17. August 2024.
Weitere Termine: 05.-08.09.2024
Auftragswerk der RUHRTRIENNALE
Eine Produktion von Rosas in Kooperation mit Museum Folkwang
Weitere Infos siehe auch: https://www.ruhrtriennale.de
Post an Karoline Bendig
Ballett | Performance | Tanztheater
Neue Stücke
Premieren (an Staats- und Stadttheatern)
RUHRTRIENNALE
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
DEBATTEN & PERSONEN
FREIE SZENE
INTERVIEWS
PREMIEREN- KRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
URAUFFÜHRUNGEN
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|