Lob des
Irrationalismus
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Die Erziehung des Rudolf Steiner am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Thomas Aurin
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Bewertung:
Am Burgtheater hat sich das britisch-irische Team Dead Centre, bestehend aus Ben Kidd und Bush Moukarzel, unter dem Titel Die Traumdeutung von Sigmund Freud mit dem Begründer der Psychoanalyse auseinandergesetzt. In einer Art Boulevardtheater mit Tiefgang, das Mosaiksteinchen aus dem Leben Freuds und insbesondere aus seiner Traumtheorie zu einem abwechslungsreichen Bilderbogen zusammensetzt, entspringt Komik der Verkleinerung und Banalisierung von bekannten Fakten und einer als Genie gefeierten Persönlichkeit. Kidd und Moukarzel bedienen sich alter und durch neuere Techniken hinzugekommener Theatertricks. Informationen, die erst im Lauf der Vorstellung durch die teilnehmende Zuschauerin eintreffen, werden in der Traumdeutung alsbald in wenigen Minuten für die Aufführung umgesetzt.
Jetzt hat sich Dead Center mit einer Uraufführung Rudolf Steiner zugewandt. Der ist, wissenschaftlich wie politisch, eine weitaus problematischere Erscheinung als Sigmund Freud. Aber er ist auch ein Stück Stuttgarter Lokalgeschichte. Hier gründete er 1919 die erste Waldorfschule. Seine Gedanken zur Anthroposophie und zur Reformpädagogik sind in der baden-württembergischen Hauptstadt nach wie vor virulent. Deren Anhänger bilden bis heute ein Netzwerk, haben in Politik und Wirtschaft Einfluss wie die Mitglieder von Burschenschaften oder die Rotarier. Die Architektur, die sich auf anthroposophische Prinzipien beruft, hat überall in der Stadt Spuren hinterlassen. Man kommt an ihnen nicht vorbei, ohne sie zu bemerken. Aber was weiß man wirklich über die Abgründe im Denken Rudolf Steiners, der acht Jahre vor der Machtergreifung Hitlers gestorben ist? Etwa über seine folgenden Ausführungen:
„Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung des modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten. Wir meinen hier nicht die Formen der jüdischen Religion alleine, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, die jüdische Denkweise.“
Ist das noch Richard Wagner oder schon Heinrich Himmler?
Der Titel des Stücks ist zweideutig. Die Erziehung des Rudolf Steiner kann davon handeln, wie Steiner erzogen wurde, oder von seiner Theorie, wie zu erziehen sei; linguistisch gesprochen: „des Rudolf Steiner“ kann ein Genetivus objectivus oder ein Genetivus subjectivus sein. Beides ist im gegebenen Kontext plausibel. Das Leben und die Lehren Rudolf Steiners interessieren Dead Centre aber kaum, jedenfalls nicht im Sinne eines Dokumentardramas, das den verbürgten Tatsachen verpflichtet ist. Es benützt Partikel der Wirklichkeit vielmehr für eine poetische Fiktion, in der Exkurse zum Theater eine nicht weniger bedeutsame Rolle spielen als eben Rudolf Steiner. Steiner tritt denn als die Figur, die wir kennen, auch gar nicht auf, sondern spricht durch ein Kind, das zugleich ein Greis ist wie die Titelfigur in Roger Vitracs Victor oder Die Kinder an der Macht. (Warum nur wird dieses geniale Stück kaum noch gespielt?)
Der Einfall, auf dem die ganze Inszenierung beruht, ist simpel. Die Dialogpartner des Kindes – in der Premiere war es, von drei Besetzungen Flinn Naunheim, der offenbar über ein phänomenales Gedächtnis verfügt –, erscheinen wie Gespenster hinter einer Spiegelwand, um, technisch perfekt, mit den Spiegelbildern zu verschmelzen.
Die Körpersprache geht über den Naturalismus des Boulevards nicht hinaus. Steiners Thesen werden in einer vereinfachten Sprache referiert. Der syphilitische Nietzsche interpelliert als Witzfigur, aber mit einem Rest von Autorität. Zu Steiners Impfgegnerschaft, deren Authentizität in der Literatur angezweifelt wird, fällt den Autoren der Erziehung von Rudolf Steiner nichts Kritisches ein. Der Vorwurf des Rassismus wird in einem einzigen Satz angesprochen und sogleich heruntergespielt:
„Okay, so in einem Absatz, in einem Buch, irgendwo, ist er vielleicht ein kleines bisschen rassistisch. Aber kommt schon. Man muss ja nicht alles was er sagt ernst nehmen. Wir müssen das nehmen, was nützlich ist, und den Rest wirft man weg.“
Am Schluss geht ein Zauberwald in Flammen auf: eine Metapher für das Dornacher Goetheanum, das 1922 tatsächlich brannte. Ein tolles Bild. Auch wenn man die offensichtlichen Sympathien der Theaterleute fürs Raunen nicht teilt. Rudolf Steiner verkündet durch den Mund des Kindes:
„Sie hat Recht. Mutter und Sohn leben jetzt wirklich in verschiedenen Welten: der physischen Welt und der geistigen Welt. Seine Mutter und sein Vater sind in der physischen Welt gefangen, während Flinn zu einem spirituellen Wesen wird.“
Aufklärung klingt anders.
Das Kind wiederholt, was es schon zu Beginn sagte:
„Danke, dass ihr gekommen seid. Bevor wir anfangen, erlaubt mir die Frage: Warum seid ihr hier? Ich meine, warum gehen Leute ins Theater?“
Für eine Antwort gibt es keine Gelegenheit.
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Die Erziehung des Rudolf Steiner am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Thomas Aurin
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Thomas Rothschild – 13. Oktober 2024 ID 14963
DIE ERZIEHUNG VON RUDOLF STEINER (Schauspielhaus, 12.10.2024)
von Dead Centre
Inszenierung: Dead Centre
Bühne: Jeremy Herbert
Kostüm: Mirjam Pleines
Musik: Kevin Gleeson
Video: Sébastien Dupouey
Licht: Jörg Schuchardt
Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger und Philipp Schulze
Übersetzung: Katalin Oliveras Máté und Victor Schlothauer
Mit: Therese Dörr, Philipp Hauß, Reinhard Mahlberg, Mina Pecik, Felix Strobel und der Kinderstatisterie
UA am Schauspiel Stuttgart: 12. Oktober 2024.
Weitere Termine: 14., 24., 27.10./ 09., 07., 23.11.2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-stuttgart.de
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