Digitaler
Bilderrausch
und
esoterischer
Zitate-Mix
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Jessica an der Volksbühne Berlin | Foto (C) Julian Röder
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Bewertung:
Wenn eine fleischgewordene Internet-Gottheit auf die Erde niedersteigt, befinden wir uns im Theater der Susanne Kennedy und ihres Bühnenbildners und Realisators von computergesteuerten Videowelten Markus Selg. Mit JESSICA - an Incarnation haben die beiden seit 2017 bereits die vierte gemeinsame Produktion an der Berliner Volksbühne herausgebracht. Und das unter mittlerweile drei Intendanten. Das muss man auch erstmal schaffen. So eine Inkarnation einer Gottheit nennt man im Hinduismus auch Avatar. Und wie Computerspiel-Avatare bewegen sich auch die PerformerInnen in den Stücken von Susanne Kennedy. Ihre Stimmen kommen von Band, sie bewegen nur die Lippen dazu. Hier sind es nicht einmal die eigenen Stimmen. Auch das ein bekanntes Mittel Kennedys zur Verfremdung ihrer in Künstlichkeit erstarrenden Bühneninstallationen. Das ist mehr Video-Kunst als herkömmliches Theater. Die Zeiten, in denen sie mit Ihren Arbeiten an den Münchner Kammerspielen noch überraschte und zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, sind allerdings lange vorbei.
Susanne Kennedys letzte Inszenierungen an der Volksbühne waren durchsetzt mit Zitaten aus Internetforen, pseudophilosophischen und religiösen Texten, die mehr wie esoterisches Gebrabbel wirkten. Nach diesem Muster arbeitet die Regisseurin auch in JESSICA. Jene Jessica ist eine selbsternannte Wiedergängerin einer weiblichen Jesusfigur. Suzan Boogaerdt sitzt als Jessica auf einem Thron in einem von der Bühnendecke herabhängenden Schrein, in dessen Hintergrund die psychedelischen Videobilder einen hypnotischen Tunnel in die Vergangenheit bilden. Die Jünger, die Jessica um sich geschart hat, erleben beim Hineinsehen eine Rückführung zu vergessenen Erinnerungen. Denn Jessica ist die Begründerin der Firma ANAMNESIS, die mit einer Technologie den Rückblick auf das eigene Leben ermöglicht. Das wird hier gefeiert wie eine Wiedergeburt.
Es gibt Weihrauch aus der E-Zigarette. In pseudoreligiösen Riten bedient sich Jessica aus dem Evangelium des Neuen Testaments. Es gibt auch eine rituelle Fußwaschung und ein letztes Abendmahl. Zur Kreuzigung kommt es nicht, aber zur schon in der Bibel erwähnten Auferstehung, der an einer Krankheit verstorbenen Jessica. Bianca van der Schoot (Stimme: Kate Strong) läuft als Interviewerin über den Set und befragt die Jünger, die mit langen blonden Haaren und in zerschnittenen Jeanshosen über ihre Erlebnisse berichten, zum Verschwinden Jessicas. Dabei werden Zweifel gestreut und das Ganze als mögliche Propaganda bezeichnet. Ironisch sind auch alle Versprecher der in Englisch vorproduzierten Texte, die über Voiceover eingespielt werden, dringeblieben. Ob diese oder jene Szene wirklich notwendig ist, wird ebenfalls in Frage gestellt.
Ist das Kritik am herkömmlichen Illusionstheater, wie sie auch Volksbühnen-Intendant René Pollesch in seinen Stücken betreibt, oder die Vorführung der digitalen Scheinwelt des Internets als Transporteur von Verschwörungsmythen und Populismus? Schlagworte wie Silicon Valley oder der Name des US-amerikanischen Finanzinvestors Peter Thiel fallen da. Diskursiv vertieft wird das in den Langeweile verbreitenden Szenen auf der als Wüste wie in einem Computerspiel gestalteten Drehbühne aber nicht. Irgendwann knockt die streikende Technik die digitale Video- und Audio-Performance einfach aus. Minutenlang ist es dunkel auf der Bühne, bis die Computer wieder hochgefahren sind. Finale Gebete und ein farbiger digitaler Bilderrausch täuschen nicht über die statische inhaltslose Leere dieser Art von digitaler Kunstanstrengung, die sich damit nicht nur technisch gesehen selbst den Stecker zieht.
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Jessica an der Volksbühne Berlin | Foto (C) Julian Röder
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Stefan Bock - 1. März 2022 ID 13490
JESSICA (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 24.02.2022)
Konzept: Susanne Kennedy, Markus Selg
Regie und Text: Susanne Kennedy
Bühne: Markus Selg
Sounddesign und Montage: Richard Janssen
Video: Markus Selg, Rodrik Biersteker
Kostüme: Andra Dumitrascu
Licht: Kevin Sock
Dramaturgie: Johanna Höhmann
Konzeption Vokaleinlagen: Ibadet Ramadani
Mit: Suzan Boogaerdt, Charlotte Brandhorst, Max Krause, Adam Muhabbek, Emma Petzet, Benjamin Radjaipour, Sylvana Seddig und Bianca van der Schoot
Stimmen/ Voice Over:
Jessica ... Kasia Tórz
Jude ... Benjamin Radjaipour
John ... Remo Joe Bittner
Andrew ... Frank Willens
Mary ... Ibadet Ramadani
Interviewer ... Kate Strong
Anna ... Inga Busch
Podcast Host ... Sir Henry
Simone ... Ami Garmon
Uraufführung war am 24. Februar 2022.
Weitere Termine: 06., 27.03.2022
Weitere Infos siehe auch: https://www.volksbuehne.berlin
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