AUTOR:INNENTHEATERTAGE 2024
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Das beispielhafte Leben des Samuel W. von Lukas Rietzschel
Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau
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Bewertung:
Auch unter der neuen Intendanz von Iris Laufenberg führt das Deutsche Theater Berlin die jährlichen AUTOR:INNENTHEATERTAGE weiter. Vom 4. bis 15. Juni stehen zehn herausragende Uraufführungen aus Deutschland und wie immer auch die Lange Nacht der Autor:innen auf dem Programm. Zum Auftakt gab das Schauspiel Köln mit Akıns Traum von Akın Emanuel Şipal in der Regie des scheidenden Intendanten Stefan Bachmann ein Gastspiel im großen Saal, und in den Kammerspielen präsentierte sich das Theater Görlitz-Zittau mit Das beispielhafte Leben des Samuel W., ein Auftragswerk des Autors Lukas Rietzschel in der Regie des dortigen Schauspielleiters Ingo Putz.
Aus einhundert Gesprächen mit Görlitzer BürgerInnen hat Lukas Rietzschel den Text dieses Stücks destilliert. Er zeichnet so das Leben eines noch in der DDR geborenen Politikers einer radikalen Partei nach, der zur Wahl um das Amt des Bürgermeisters gegen den amtierenden Kandidaten antritt. Ein Mensch, von dem es widersprüchliche Meinungen gibt, der nicht wirklich zu fassen ist und im Stück auch nicht als Person auftritt. Eine reale Figur dahinter gibt es natürlich auch. Ein Görlitzer AfD- Bürgermeisterkandidat. Der Ort Görlitz steht hier als Beispiel für eine Region, in der wie auch in anderen Regionen der fünf neuen Bundesländer die Betriebe nach der Wende abgewickelt wurden, die Menschen sich neu orientieren mussten und das Vertrauen in das politische System verloren haben.
Herausgekommen ist keine allgemein gültige Erklärung für das Erstarken der AfD, aber eine recht interessante historische Bestandsaufnahme der Ereignisse im Osten nach der Wende. Da kommt sicher auch einiges an bekannten Klischees zu Tage, aber im Großen und Ganzen bieten die Aussagen der befragten BürgerInnen ein, wie es so schön im Titel heißt, beispielhaftes Bild der aktuellen politischen Lage. Es beginnt mit einer Videoeinblendung aus der Garderobe des amtierenden Bürgermeisters, der sich vor einer Wahlveranstaltung, auf der ein Zusammentreffen mit dem Kandidaten Samuel W. geplant ist, mit einem Parteifreund berät. Es herrscht die Angst davor zu verlieren, dem gegnerischen Kandidaten die Hand zu geben und Munition für Anwürfe in der Presse zu bieten. Nur wer ist dieser Samuel W. eigentlich? Ist er ein Gedanke oder eine Idee? Steht er für einen Ort oder für eine Zeit?
Diesen Fragen geht das Stück nach. Aber zunächst wuselt das Ensemble auf der noch leeren Bühne umher. Ein Stimmengewirr macht sich breit, aus dem noch nichts Konkretes herauszuhören ist. Auf einem Podest im Hintergrund steht die Tänzerin Elise de Heer im Anzug und mit zurückgegeltem Haar und probt den ganzen Abend über kämpferische Posen. Eine interessante Verkörperung einer Person, die es im Folgenden zu ergründen gilt. Das übrige Ensemble baut darum eine kleine heile Welt aus Häuschen, Gartenzaun und Grill auf. Alles schön in Weiß gehalten. Einmal wird der Zaun sogar angestrichen. Die Kulissen vermehren sich mit der Zeit. Ein Kinderwagen taucht auf, ein Auto, ein Swimmingpool. Blühende Landschaften, möchte man meinen. Ein Zustand, den es vor der Wende in einer durch den Kohleabbau und die dazu gehörende schmutzige und stinkende Industrie geprägten Region nicht gab. Darum dreht es sich in der ersten Erzählrunde der ebenfalls in Weiß gekleideten GörlitzerInnen, die einen kleinen Abriss der Vor- und Nachwendezeit geben.
Aber immer geht es in den Berichten auch um Samuel W., dessen Kindheit und Jugend aus den Erinnerungen der Befragten ersteht. Ein Einzelkind mit einem jüngeren Freund, der zu ihm aufsieht wie zu einem großen Bruder. Später in der Schule hat Samuel eine Jugendbande, trägt einen langen Ledermantel und lässt sich gern Führer nennen. Eine Karriere der langsamen Radikalisierung, aber nie so, dass er stärker damit aufgefallen wäre. Samuel geht freiwillig zur Bundeswehr, will seinem Staat etwas geben, verachtet die Zivildienstleistenden. Er glaubt an den Aufstieg durch Leistung, was ihn zunächst in die FDP führt. Dort lernt er das politische Handwerk. Nach einem Aufenthalt im Westen kommt er enttäuscht wieder in die Heimat. Vorwürfe gegen die Politik, die sich nicht am deutschen Volk orientiert. Thilo Sarrazins Buch hat ihm die Augen geöffnet. Der Wechsel zur AfD ist die Folge.
Das Stück sagt aber nicht nur etwas über den Werdegang eines radikal rechten Politikers aus, sondern in den Berichten der Befragten zeigen sich vor allem auch die Haltungen der Menschen vor Ort. Eine Gesinnung, die sich parallel mit den Ereignissen wie 9/11 oder der Flüchtlingswelle ebenso verfestigt. Mythen zur Entnazifizierung im Osten, der Emanzipation der Frauen in der DDR oder die Art der Ausbeutung im Westen und Osten - für Geld oder für eine Sache - kommen ebenso zur Sprache wie die 1990er Jahre als Zeit des plötzlichen Umbruchs und der Orientierungslosigkeit gezeigt werden. Eine ganze Generation damaliger Eltern auf der Suche, nicht fähig der Jugend als Beispiel zu dienen. Das wirkt nach. Die Anfälligkeit für falsche Versprechen, Populismus oder Verschwörungstheorien ist eines der Ergebnisse. Ein Versagen der Politik, die nur noch als Systempolitik wahrgenommen wird. Antiamerikanismus, Fremdenfeindlichkeit, all das fällt auf fruchtbaren Boden. Letztendlich erweist sich Samuel W. als geschickter Dompteur der Massen schon auf dem Sprung zu Höherem. Ein Abend, beim dem die Erkenntnisse oft zwischen den plakativ erscheinenden Zeilen zu finden sind.
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Das beispielhafte Leben des Samuel W. am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau | Foto (C) Pawel Sosnowski
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Stefan Bock - 6. Juni 2024 ID 14785
Das beispielhafte Leben des Samuel W. (DT-Kammerspiele, 04.06.2024)
von Lukas Rietzschel
Regie: Ingo Putz
Bühne und Kostüme: Sven Hanssen
Choreographie: Elise de Heer
Dramaturgie: Martin Stefke
Mit: Martha Pohla, Sabine Krug, Paul-Antoine Nörpel, David Thomas Pawlak, Marc Schützenhofer und Elise de Heer.
Premiere in Görlitz war am 20. Januar 2024.
Gastspiel des Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau bei den ATT
Weitere Infos siehe auch: https://www.g-h-t.de/
Post an Stefan Bock
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