Menschen-
experiment
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Lisa Wildmann in Angst am Theater unterm Dach im Alten Schauspielhaus | Foto (C) Tobias Metz
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Bewertung:
Stefan Zweigs Novelle Angst handelt von Irene Wagner, die eine „Affäre“ hat und von einer armen Frau erpresst wird mit der Drohung, diese würde das Geheimnis dem Mann Irenes, einem angesehenen Rechtsanwalt, verraten. Am Ende kommt heraus, dass die scheinbare Erpresserin eine arbeitslose Schauspielerin ist, die vom Ehemann engagiert wurde mit der Absicht, Irene durch die zunehmende Erzeugung von Angst zu einem Geständnis zu drängen.
Innen- und Außensicht ergänzen einander, überlappen sich bruchlos. Freud hat bei Zweig, und nicht nur in dieser 1910 entstandenen und 1920 veröffentlichten Novelle, wie bei vielen seiner Zeitgenossen, zumal in Österreich, deutliche Spuren hinterlassen. Es geht um Schuld, um Lüge, um Macht und um ein grausames Experiment. Angst ist auch eine Novelle über die verlogene Moral einer sozial lokalisierbaren Klasse, des Großbürgertums. Dass die vermeintliche Erpresserin für Irene nicht eine Verbrecherin, sondern – mit eindeutig negativer Konnotation – eine Proletarierin ist, muss in der Epoche und am Ort des Austromarxismus als signifikant verstanden werden.
Fritz Wagner argumentiert mit der ihm eigenen Rationalität: „Ich kenne das vom Gericht und aus den Untersuchungen. Die Angeklagten leiden am meisten unter den Verheimlichungen, unter der Drohung der Entdeckung, unter dem grauenvollen Zwang, eine Lüge gegen tausend kleine versteckte Angriffe verteidigen zu müssen. Die Richter leiden manchmal mehr dabei als die Opfer. Und dabei betrachten die Angeklagten ihn immer als den Feind, der in Wahrheit ihr Helfer ist. Ich verstehe das eigentlich noch immer nicht, dass man eine Tat tun kann, mit Bewusstsein der Gefahr, und dann nicht den Mut zum Geständnis haben. Diese kleine Angst vor dem Wort finde ich kläglicher als jedes Verbrechen.“ Irene spricht von Scham und erinnert damit daran, dass die Abgeltung einer tatsächlichen oder vermeintlichen Schuld nur zu gewinnen ist, wenn der Mensch als solcher wahrgenommen, seine Würde respektiert wird. Ansonsten bleibt noch die angestrebte Beseitigung von Ungerechtigkeit, was Ungerechtigkeit selbst stets ist: eine Demütigung.
Roberto Rossellini hat Angst 1954 mit Ingrid Bergman in der Hauptrolle verfilmt. 2010 inszenierte Jossi Wieler als Koproduktion mit den Münchner Kammerspielen bei den Salzburger Festspielen eine Bühnenfassung von Koen Tachelet. Die Verführung ist verständlich. Die Stärke von Stefan Zweigs Büchern sind die Sujets. Sprachlich reicht er, entgegen einem verbreiteten Gerücht, wie der jüngere Franz Werfel, an den in mancher Hinsicht vergleichbaren, neunzehn Jahre älteren Arthur Schnitzler nicht heran.
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Jetzt hat Lisa Wildmann im intimen Theater unterm Dach im Alten Stuttgarter Schauspielhaus ihre eigene Ein-Personen-Fassung vorgestellt. Hautnah erleben die nur neunzehn in einem Oval sitzenden Zuschauer*innen mehr als einen Rezitationsabend und weniger als üppiges Theater. Wildmann spricht und agiert auf der knapp bemessenen Fläche vor ihnen und auch hinter ihren Rücken. Sie kommt mit einem Hocker aus und einer kleinen Handtasche, von der aus sie kurze Jazzfragmente ein- und ausschaltet.
Übergangslos wechselt Lisa Wildmann zwischen der Erzählung in der dritten Person und dem Rollenspiel. Sie vermeidet die Übertreibung, nüchtert die oft geschwollene Sprache Zweigs eher aus. Die wenigen Figuren der Handlung charakterisiert sie nicht nur durch ihre Dialektfärbungen, sondern, vortrefflich, durch ihre sozial determinierte Mimik und Körperhaltungen. Eine Schauspielerin spielt, im Gewand einer Symbiose aus psychologischer Studie und spannendem Krimi, den Gegensatz zwischen der Frau „aus besserem Hause“ und einer Erpresserin aus dem Prekariat, genauer: einer Schauspielerin, die einer Erpresserin spielt.
Die ganze Grausamkeit des Stoffes reizt Lisa Wildmann nicht aus. Dass Fritz Wagner gut gemeint haben könnte, was fast zu einem bösen Ende führte, kommt nicht in Betracht. Dieser Mann, in der Stuttgarter Fassung nur als Zitat anwesend, ist, bis zur Grenze der Karikatur, der Bösewicht, der einen anderen Menschen instrumentalisiert. Wie Madame de La Pommeraye in Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr, wie die Marquise de Merteuil in den Gefährlichen Liebschaften, wie der Doktor gegenüber Woyzeck, wie letzten Endes die Ärzte in deutschen Konzentrationslagern gegenüber den Insassen, hat Fritz keine Hemmungen, ein Menschenexperiment mit seiner eigenen Frau durchzuführen.
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Lisa Wildmann in Angst am Theater unterm Dach im Alten Schauspielhaus Foto (C) Tobias Metz
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Thomas Rothschild – 1. Oktober 2022 ID 13828
ANGST (Theater unterm Dach im Alten Schauspielhaus, 30.09.2022)
Kammerspiel nach der gleichnamigen Novelle von Stefan Zweig
Bühnenfassung von Lisa Wildmann
Regie und Spiel: Lisa Wildmann
Premiere war am 30. September 2022.
Weitere Termine: 01., 08., 14.10./ 15., 16.12.2022// 27., 28.01.2023
Weitere Infos siehe auch: https://schauspielbuehnen.de
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