Stummes Stück
DIE GESCHICHTE EINER STUNDE - EIN SILENT PIECE IN DREI TEILEN
|
Die Geschichte einer Stunde im Ballhaus Ost | Foto (C) Hendrik Lietmann
|
Bewertung:
Im September 2020 überraschte das Team um die Theaterregisseurin Marie Schleef, die Bühnenbildnerin Jule Saworski und die Schauspielerin Anne Tismer im Berliner Ballhaus Ost mit der Performance Name Her. Eine Suche nach den Frauen+, in der Anne Tismer in 7,5 Stunden 150 Kurzbiografien von vergessenen Frauen der Weltgeschichte performte. Die ambitionierte Produktion wurde prompt zum leider pandemiebedingt nur online stattfindenden THEATERTREFFEN 2021 eingeladen. Mit Die Geschichte einer Stunde - Ein Silent Piece in drei Teilen gibt es nun eine Fortsetzung.
Die Überforderung für das Publikum liegt dabei nicht mehr in der Länge der neuen Performance, sondern in ihrer speziellen Art. Wie der Titel schon aussagt, handelt es sich lediglich um eine Stunde, in der allerdings kein Wort fällt, eine digitale Zeitanzeige die Minuten zählt und der Text der Geschichte per Übertitel eingeblendet wird. Die Geschichte einer Stunde ist eine 1894 von der wenig bekannten US-amerikanischen Schriftstellerin Kate Chopin geschrieben Kurzgeschichte, in der die unter Herzproblemen leidende Louise Mallard vom angeblichen Unfalltod ihres Mannes erfährt, sich in ihr Zimmer zurückzieht und das Aufwallen eines plötzlichen Freiheitsgefühls empfindet. Nachdem ihr Mann unerwartet unverletzt von seiner Reise zurückkehrt, stirbt Louise an Herzversagen.
Verschränkt wird diese Geschichte mit einer weiteren Erzählung der frühen feministischen Weltliteratur, der 1892 veröffentlichten autobiografisch geprägten Kurzgeschichte der US-amerikanischen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Charlotte Perkins Gilman Die gelbe Tapete. Aufmerksame TheatergängerInnen kennen diese Story vielleicht noch aus der Inszenierung von Katie Mitchell 2013 an der Berliner Schaubühne. Ein an Düsternis nicht zu übertreffendes Stück über die eheliche Unterdrückung der Frauen jener Zeit, bei der die an Depressionen leidende Protagonistin in der Abgeschiedenheit ihres Krankenzimmers beginnt, die Tapete von der Wand abzureißen, um eine von ihr dahinter imaginierte Frau zu befreien, die sich letztendlich als sie selbst herausstellt.
Lange Vorrede, relativ komplizierte Umsetzung, in drei als „Prelude“, „Interlude“ und „Postlude“ bezeichneten Teilen sieht das Publikum im Ballhaus Ost die Performerin Anne Tismer in einem mit bunten Blumenornamenten tapezierten Bühnenkasten vor einer Videoprojektion, die das Zimmer in die Tiefe verlängert. In der Projektion steht die Performerin verdoppelt mit einem Smartphone in der Hand. Auch Tismer davor benutzt ein Smartphone, auf dem sich wohl, wie in den Übertiteln angezeigt, drei Musikstücke befinden, die beide Protagonistinnen im Gegensatz zum Publikum zu hören scheinen und sich dazu fast meditativ bewegen. Es sind dies drei Klavierstücke von Agathe Backer Grøndahl (1847-1907), Les Sirènes, eine Kantate für gemischten Chor und Klavier von Lili Boulangers (1993-1918) und Teach Yourself to Fly von Pauline Oliveros (1932-2016), ein (wenn man es hören könnte) tatsächlich sehr meditatives minimalistisches Experimentalstück.
Das Ganze hat vermutlich den Sinn, dass ungehörte oder vergessene Musik von Frauen, selbst wenn man sie nicht hört, ja nicht aufhört zu existieren, sondern lediglich abwesend ist. Das mag eine konsequente Fortsetzung der Name her-Performance zu sein, es entwickelt sich im Folgenden aber nicht wirklich etwas Neues daraus. Nach ungefähr der Hälfte der Zeit, die Uhr läuft permanent, verlässt Anne Tismer das Zimmer durch eine Tapetentür und kriecht in einen kleineren Nebenraum, in dem ein Bett steht, und beginnt den Rest des Abends stoisch die Tapete abzuknibbeln und flächig von den Wänden zu reißen, während in den Übertiteln der Text der Geschichte einer Stunde läuft.
Die gesamte Performance besitzt auch eher einen installativen Charakter. Im Video des großen Raums ist dabei der eigentlich wesentlich interessantere Teil zu sehen, wenn man versucht, den Text über die Erkenntnis der Freiheit und den Drang zur Selbsterhaltung mit dem Videobild zu verbinden. Der Befreiungsakt, der sich mehr im Video als in der performativen Tätigkeit des Tapeteabreißens widerspiegelt, verweist nach draußen. Ein Akt, der sich hier nicht vollenden kann. Das Problem bleibt, dass bei aller Mühe diese Art von stiller Kunst kaum ohne nötigen Beipackzettel wirklich erfassbar ist.
|
Die Geschichte einer Stunde im Ballhaus Ost | Foto (C) Hendrik Lietmann
|
Stefan Bock - 16. Januar 2022 ID 13404
DIE GESCHICHTE EINER STUNDE - EINSILENT PIECE IN DREI TEILEN (Ballhaus Ost, 15.01.2022)
Idee, Konzept und Regie: Marie Schleef
Entwicklung Bewegungssprache, Performance und Kostüm: Anne Tismer
Konzept, Bühnenbild und Video: Jule Saworski
Dramaturgie und Übersetzung: Hannah Schünemann
Kamera und Schnitt: Hendrik Lietmann
Licht: Leander Hagen
Video-Operator, Inspizienz und Superman: Ruben Müller
Künstlerische Produktionsleitung: Michiko Günther und Ayako Toyama
Premiere war am 13. Januar 2022.
Weitere Termine: 16.01. (Ballhaus Ost) / 03., 05.02.2022 (Kosmos Theater Wien)
Eine Produktion von Marie Schleef und Team in Kooperation mit dem Ballhaus Ost und dem Kosmos Theater Wien
Weitere Infos siehe auch: https://www.ballhausost.de
Post an Stefan Bock
Freie Szene
Live-Streams
Neue Stücke
Premieren
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
DEBATTEN & PERSONEN
FREIE SZENE
INTERVIEWS
PREMIEREN- KRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
RUHRTRIENNALE
TANZ IM AUGUST
URAUFFÜHRUNGEN
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|