Ins Tanzen
DER PROZESS mit dem Tschechischen Nationalballett
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Der Prozess mit dem Tschechischen Nationalballett | Foto © Tschechisches National Ballett
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Bewertung:
Ganz ohne Musik beginnt der Tanz einer agilen Frau, die nur leicht mit Plastikklebebändern und Zeitungsfetzen bekleidet ist. Später werden versetzt anmutende Knister-Geräusche zum ungewöhnlichen Bewegungsvokabular eingespielt. Sie tanzt kraftvoll, eigenartig zackig und verbiegt sich gelenkig. Ihre manierierten Bewegungen deuten entschlossen auf eine Richtung hin. Damit ist schon das Thema in Franz Kafkas Erzählung Der Prozess ins Choreografische geführt. Diese Frau erscheint dem links vorne, zunächst am Boden liegenden Protagonisten, Josef K., im Traum. Er ist überrascht und kann den Gestus der herrischen, verführerischen Lichtgestalt mit den monoton-gleichförmigen, manchmal kurz eingefrorenen Regungen ebenso wenig deuten wie das Publikum. Sogleich fängt sie an ihn bestimmend zu bedrängen. Sein Schicksal und der weiterführende Prozess scheinen besiegelt. Immer wieder wird sie ihm begegnen, und das Verstörende nimmt seinen Lauf. Er wird bedroht, verletzt, versucht sich zu wehren. Doch verliert er immer mehr seine Freiheit und übernimmt gar allmählich diesen seltsamen, wie fremdbestimmt wirkenden Tanzstil der anderen Figuren.
Das Tschechische Nationalballett hat Mauro Bigonzettis Prozess-Choreografie 2015 in sein Repertoire aufgenommen. Die Performance ist inspiriert von Kafkas 1914 geschriebenen gleichnamigen Romanentwurf, der postum 1925 erschien. Das Geschehen spielt im Prager Milieu, wo auch der Sitz der Compagnie ist, die jetzt zu einem Gastspiel in der Oper Bonn eingeladen war.
Das Tschechische Nationalballett interpretierte Josef K.s anfängliche Verhaftung, seine Anhörungen und verschiedene romantische Begegnungen durch modernen Tanz. Das Geschehen ist voller dramatischer Wendungen. Drei junge Männer mit eleganten Hüten schüchtern die Hauptfigur ein; aus Gründen, die er nicht versteht. In einem albtraumhaften Geschehen begegnet die Hauptfigur später auch anderen Figuren, die ihn scheinbar ablehnen oder oft auch nur oberflächlich wahrnehmen. Während sie choreographisch miteinander in sinnentleerten, beeindruckend synchronen Formationen im schnellen Tempo interagieren, bleibt die Hauptfigur stets im Abseits. Es ist jedoch angsteinflößend, wenn sich plötzlich alle anderen Figuren dem verwirrten und ungläubigen Protagonisten ungeteilt zuwenden. Ein Strudel verhängnisvoller Ereignisse beginnt.
Mauro Bigonzetti entwarf für sein Stück auch die Kostüme. Das Tanzensemble agiert harmonisch und dramatisch vor Videoprojektionen, die von Alessandro Grisenti und Marco Noviello entwickelt wurden. Klassische Musik von Antonio Maria Bononcini, Dietrich Buxtehude, Carlo Gesualdo und Claudio Monteverdi löst sich eindrücklich ab mit eingespielten Kompositionen von Henryk Górecki, Tarquinio Merula, Modest Musorgskij.
Eine Geschlossenheit erhält die Vorführung durch die eingangs beschriebene, von Bigonzetti hinzugefügte zusätzliche Figur, die mehrfach auftritt und den Prozess selbst symbolisieren soll. Gegen Ende schiebt die Frau mit den glitzernden Kopfschmuck und der knappen Zeitungsfetzen-Bekleidung einen schweren Koffer mit Papieren vor sich her, auf dem sie sich sodann effektvoll räkelt, bevor sie Josef K. in einer Schlussszene lebendig unter Papierstapeln begräbt. Ein anrührendes Handlungsballett, das die Düsternis und Ausweglosigkeit aus Kafkas Vorlage stimmungsvoll in seelenlos sterile Gruppenszenerien fasst.
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Der Prozess mit dem Tschechischen Nationalballett | Foto © Tschechisches National Ballett
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Ansgar Skoda - 8. Januar 2023 ID 13991
Weitere Infos siehe auch: https://www.narodni-divadlo.cz
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