Parallax
Kornél Mundruczós jüdisches Generationenstück zu Gast im Hebbel am Ufer
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Bewertung:
Nach der Weltpremiere im Mai bei den Wiener Festwochen war das neue Stück Parallax des ungarischen Regisseurs Kornél Mundruczó und seiner Frau und Texterin Kata Wéber nun auch im Hebbel am Ufer in Berlin-Kreuzberg zu sehen. Eine weitere Produktion des PROTON THEATRE, die allerdings in Ungarn nicht zur Aufführung kommen kann, da dem Theater sämtliche Subventionen gestrichen wurden. Ein kleiner Vorgeschmack für Kunstschaffende in Deutschland, falls hier doch einmal die AfD in politische Verantwortung kommen sollte. Unliebsame Themen wie der Holocaust oder Stücke über die LGBTIQ+-Themen dürften dann auch hier nicht mehr erwünscht sein.
Der Begriff "Parallax" benennt die scheinbare Änderung der Position eines Objektes durch verschiedene Positionen des Beobachters. Aus verschiedenem Blickwinkel entstehen also auch unterschiedliche Bilder. So oder so ähnlich könnte man das Anliegen des Stücks bezeichnen. In erster Linie ist es aber ein Dreiakter, der sich mit dem Leben einer ungarisch-jüdischen Familie aus Sicht dreier Generationen beschäftigt. Der erste Akt spielt sich zunächst hinter der Fassade eines mit Fenstern ausgestatteten Wohncontainers ab. Monika Pormale hat die Bühne dreigeteilt. Unten befindet sich die Wohnküche von Éva (Lili Monori), einer Holocaustüberlebenden aus Budapest. Das Innere der Küche wird von zwei Live-Kameras gefilmt auf einen geteilten Bildschirm über der Küche projiziert.
Wir sind im Jahr 2013, Éva soll eine Ehrung als Holocaust-Überlebende erhalten. Ihre Tochter Léna (Emőke Kiss-Végh) ist aus Berlin zu Besuch. Éva ist schon leicht dement und stellt ihre Teetasse ohne Wasser in die Mikrowelle. Es entspinnt sich ein Gespräch über die Vergangenheit, wie es zwischen Mutter und Tochter sicher schon öfter geführt wurde. Léna benötigt die Geburtsurkunde von Èvas Mutter als Nachweis, dass sie Jüdin ist, um ihren Sohn Jónás in einer jüdischen Schule in Berlin anmelden zu können. Éva will sie ihr nicht geben, aus Angst, sie könnten dadurch als Juden in Deutschland registriert werden. Sie erzählt aus der Geschichte ihrer Mutter und deren Deportation ins KZ. Dort ist Éva zur Welt gekommen. Sie möchte keinen Vorteil aus ihrem Leid ziehen und nicht zur Ehrung gehen. Der Streit zwischen Mutter und Tochter, die sich eigentlich nichts aus Religion und Judentum macht, ist ein typischer Generationenkonflikt vor dem Hintergrund des Holocaust. Die ältere Generation, die nicht vergessen kann und die zweite die mit diesem Trauma aufwachsen musste.
Das ist im realistischen Stil Mundruczós eindrucksvoll gespielt. Nachdem Èva sich doch entschlossen hat zur Ehrung zu gehen, macht sie vor Erregung ein und Léna ist mit der Beseitigung der Notdurft beschäftigt. Nachdem zunächst der Wasserhahn der Spüle nicht funktioniert, entlädt sich schließlich über Klimaanlage, Schranktüren und Deckenöffnungen ein minutenlanger sintflutartiger Schwall von Wasser. Einer der oft von Mundruczó eingesetzten magisch-surrealen Momente, in denen er seine Bühnenräume auch schon mal wie in Látszatélet zum Drehen brachte. Nach dem ersten Schreck, tanzt Léna nun befreit unter dem Wasserschwall. Sie will leben, nicht Überlebende sein, wie sie sagt.
Im zweiten Akt, einige Jahre später, erscheint nun Lénas Sohn Jónás (Erik Major). Er kommt einen Tag vor der Beerdigung der inzwischen verstorbenen Großmutter aus Berlin. Er chattet mit ein paar Freunden übers Handy und verabredet sich mit ihnen zu einer Party in der Küche der Großmutter. Es entspinnt sich nun mit den vier Gästen eine schwule Sex-Party mit reichlich Kokakin und speziellem Sex-Spielzeug. Einer der älteren Party-Gäste möchte allerdings nicht fotografiert werden. Es stellt sich heraus, dass er verheiratet ist und einen Ministeriumsposten in der rechtsgerichteten Regierung Orbáns hat. Ein Gespräch über schwule Identität und konservativen Pragmatismus. Der 20jährige Jónás will sich da nicht festlegen. Er fühlt sich nicht schwul oder als Jude, sondern möchte nur Berliner sein.
Nachdem die lustige Party gesprengt ist, schläft Jónás im Beerdigungshemd der Großmutter ein. Am nächsten Morgen weckt in seine Mutter in den Resten der feucht-fröhlichen Sex-Party. Im dritten Akt erleben wir nun einen weiteren Teil des Generationenkonflikts. Es geht wieder um jüdische Identität, das Gefühl, nirgends richtig zu Hause und in der vererbten Geschichte schicksalhaft gefangen zu sein. Regisseur Mundruczó löst diesen seelischen Konflikt der Protagonisten nicht auf. Sein magischer Realismus gipfelt am Ende in einem gemeinsamen befreienden Tänzchen aller Beteiligten.
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Parallax | Foto (C) Nurith Wagner-Strauss
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Stefan Bock - 13. Juni 2024 ID 14797
PARALLAX (HAU 1, 11.06.2024)
Text: Kata Wéber
Regie: Kornél Mundruczó
Künstlerische Mitarbeit: Dóra Büki
Bühne: Monika Pormale
Kostüme: Melinda Domán
Licht: András Éltető
Dramaturgie: Soma Boronkay und Stefanie Carp
Musik: Asher Goldschmidt
Choreografie: Csaba Molnár
Mit: Lili Monori, Emőke Kiss-Végh, Erik Major, Roland Rába, Sándor Zsótér, Csaba Molnár und Soma Boronkay
UA bei den Wiener Festwochen: 27. Mai 2024
Eine Produktion des Proton Theatre
Weitere Infos siehe auch: https://www.hebbel-am-ufer.de/
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