„...wie der
Diamant im
Schacht“
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Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten von Christoph Marthaler | Foto (C) Matthias Horn
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Bewertung:
Gibt es wie bei Hit-Singles berühmter Musiker auch bei dichterischen Werken so etwas wie eine weniger bekannte B-Seite? So behauptet es zumindest der Dramaturg Carl Hegemann, Mitinitiator des Hölderlin-Projekts Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten, das der Theatermacher Christoph Marthaler im Mai letzten Jahres im MalerSaal des Deutschen Schauspielhauses Hamburg in Koproduktion mit dem Schauspielhaus Zürich und der Akademie der Künste Berlin herausgebracht hat. Hölderlin, der von 1807 bis 1843 in seinem Tübinger Turm dahindämmerte, hat wohl die meiste Zeit auf der „B-Seite des Lebens“ verbracht. Und so gibt es neben seinem pathetischen und heroischen Werk auch ein kleineres aber trotzdem nicht minder wichtiges gegen die alltäglichen Zumutungen.
Nun war der kleine, recht sparsam inszenierte Abend mit Texten Hölderlins im Rahmen eines Kolloquiums, das die AdK dem Theaterregisseur Klaus Michael Grüber gewidmet hat, als Gastspiel in Berlin zu erleben. Grüber prägte viele Jahre die Berliner Schaubühne unter Peter Stein. Legendär ist sein Hölderlin-Projekt Winterreise, das er 1977 im eisigkalten Berliner Olympiastadion inszenierte. Christoph Marthalers Hölderlinabend ist als eine Hommage an Grüber und Hölderlin zu verstehen.
Wer sich Mühe gibt, kann in dem betongrauen Bühnenkasten (die kahlen Sichtbetonwände des Hamburger MalerSaal werden im Ausstellungssaal 2 der Akademie der Künste am Hanseatenweg durch graue Platten nachempfunden) einen Vogelkäfig mit überdimensionalem Wasser- und Körnerspender sowie einem ovalen Wetzstein, der wie eine abstrakte Skulptur an der Rückwand hängt, erkennen. Lauter Vögel der Nacht aus Hölderlins Gedicht Die Kürze, die hier zunächst lethargisch auf Stühlen sitzen und dann zu etwas Leben erwachen, auf Gambe und Klavier musizieren, oder schüchtern leis ein paar Hölderlin-Zitate von sich geben. Etwa das vom „zerrissenen Saitenspiel“ aus den Briefen Hyperions an den Freund Bellarmin. Es sind kurze Epigramme aus einem einsamen Hölderlin-Kosmos, wie der Aphorismus: „Man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe.“
Der vielleicht bemerkenswerteste Satz des Abends lautet aber: „Da wo die Nüchternheit dich verläßt, da ist die Grenze deiner Begeisterung.“ Dieses aus den theoretischen Schriften (Reflexion) stammende Hölderlin-Zitat wird hier öfter wiederholt, als wolle es den etwas betulichen Abend konterkarieren. Samuel Weiss bricht beim Vortrag Werden im Vergehen das Rednerpult auseinander. Ein typischer Marthaler-Gag, der sich ebenso wiederholt. Martin Zeller sitzt in der Ecke auf einem Haufen kaputter Saiteninstrumente, spielt wunderschön Gambe und kratzt auch einmal etwas störrisch darauf herum. Bendix Dethleffsen bedient das Klavier oder Clavichord. Dieses minimalistische Kammerorchester spielt Bach, Beethoven, Rachmaninow, Schubert und Schumann. So unterläuft Marthalers Abend geschickt und nüchtern im ironischen Sinn das Dichterpathos, ohne es an den Effekt zu verraten. Und das so sparsam und entschleunigt, wie es sich für Marthaler-Abende gehört.
Der Chor der „Sorglosschlafenden“ und „Frischaufgeblühten“ singt zart: „Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden,/ Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,/ Hast du mein Herz zu warmer Lieb entzunden,/ Hast mich in eine beßre Welt entrückt!“ Kein Text von Hölderlin, sondern vom Schubertianer Franz von Schober. Doch die hier gepriesene holde Kunst, die einen in eine bessere Welt zu entrücken vermag, war auch das Höchste für den deutschen Idealisten Hölderlin. Mit der Poesie der „freundlichen Götter“ zur Revolution. „Meine Liebe ist das Menschengeschlecht.“ lautet ein Zitat aus einem Brief an den Bruder. Da können einem heute schon Zweifel kommen.
„So komm! daß wir das Offene schauen“, heißt es in Hölderlins Elegie Brot und Wein. Ein Thema auch des Kolloquiums. Das ist hier durchaus doppeldeutig gemeint. Einerseits offen, dann aber auch wieder seltsam geschlossen bleibt dieser Abend. Die Hölderlin-Texte kommen aus der Tiefe von Horn-Kästen, in die die DarstellerInnen ihre Köpfe vergraben. Marthaler, der sich nicht ganz vom Pathos und Weltschmerz Hölderlins übermannen lässt, liebt das Uneindeutige genau wie sein Vorbild Grüber. Einen Corona-Scherz mit Desinfektionsmittel erlaubt er sich aber auch noch. Und Lars Rudolph scheitert bei der Annährung mit einem „Freund, ich kenn' mich nicht, ich kenne nimmer die Menschen.“ am monatelang eingeübten Social Distancing. Und wie Hyperion unter den Deutschen, deren „Kinderkunst nicht hilft“, sitzt dieser Abend „wie der Diamant im Schacht“.
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Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten von Christoph Marthaler | Foto (C) Matthias Horn
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Stefan Bock - 17. Mai 2022 ID 13625
DIE SORGLOSSCHLAFENDEN, DIE FRISCHAUFGEBLÜHTEN (Akademie der Künste am Hanseatenweg, 16.05.2022)
Regie: Christoph Marthaler
Bühne: Duri Bischoff
Kostüme: Sara Kittelmann
Licht: Annette ter Meulen
Idee und künstlerische Beratung: Carl Hegemann
Dramaturgie: Malte Ubenauf
Es spielen: Josefine Israel, Sasha Rau, Lars Rudolph und Samuel Weiss sowie die Musiker Martin Zeller (Viola da Gamba) und Bendix Dethleffsen (Klavier und Clavichord)
Premiere am Deutschen Schauspielhaus Hamburg: 29. Mai 2021
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspielhaus.de/de
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