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Premierenkritik

Brechts politische Parabel als grandiose Freiluft-Aufführung in der JVA Tegel



Bewertung:    



In diesem Sommer hat sich das aufBruch-Gefängnistheater zum 125-jährigen Bestehen der JVA Tegel ein besonders passendes Stück zur Aufführung ausgesucht. In seiner „Historienfarce“ Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, 1941 im finnischen Exil geschrieben, verband Bertolt Brecht wahre Ereignisse um den politischen Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland mit Elementen aus dem US-amerikanischen Gangster-Milieu. Als Vorbild für die Titelfigur diente ihm der Chicagoer Mafia-Boss Al Capone. In erster Linie sollte diese Parabel aber den politischen Aufstieg Adolf Hitlers zum Diktator widerspiegeln. Dass das auch heute noch fesseln kann, beweist die Inszenierung von Regisseur Peter Atanassow, bei der Mitglieder des Gefangenenensembles der JVA Tegel in die Rollen von Chicagoer Verbrechern, Geschäftsleuten, Händlern und Politikern schlüpfen.

Gespielt wird im Freistundenhof eines ehemaligen Gefängnistrakts. Um dahin zu gelangen, muss sich das Publikum für etwa drei Stunden den Regeln des Strafvollzugs beugen. Handys und Wertsachen bleiben draußen in Schließfächern. Nach Abgabe des Ausweises und einer kurzen Leibesvisitation wird das Publikum in Gruppen über das JVA-Gelände geführt und bekommt zumindest einen kleinen Einblick hinter die Kulissen des Berliner Strafvollzugs. Hohe Mauern, Gitter, Zäune und Stacheldraht prägen das Bild, aber auch etwas Grün ist in den Höfen der Zellengebäude zu sehen.

Älteren Berlinern ist, wie man auch Gesprächen im Publikum vor der Vorstellung entnehmen kann, sicher noch die legendäre Inszenierung Heiner Müllers von 1995 mit Martin Wuttke in der Titelrolle im Gedächtnis. Nun spielen hier also verurteilte Straftäter Brechts Verbrecherfarce und das durchaus überzeugend. Die leicht gekürzte 90minütige Inszenierung hält sich recht getreu an Brechts Szenenaufbau. Der Regisseur lässt auch die wichtigsten Ereignisse der angehängten Zeittafel von einem Ansager (Jimmy Juma) einsprechen. Es beginnt natürlich mit dem Prolog und der Vorstellung der „berühmtesten Heroen“ der Chicagoer Gangsterwelt. Den Bossen des Karfioltrusts in schwarzen Anzügen stehen die Gangster um Arturo Ui in ebenso schwarzen Lederjacken gegenüber.

Bühnenbildner Holger Syrbe hat zwei offene, verschiebbare Containerhälften und ein Gerüst mit Podesten auf den Hofrasen gestellt. Die Container lassen sich in immer neue Stellungen verschieben und erklettern. Brecht hatte ähnliches schon in seine Regieanweisungen geschrieben. Wer oben steht hat das Sagen. So funktioniert bildlich auch der hierarchische Aufstieg. Unten steht das Fußvolk und hört zu. Zunächst gibt Robin den verkniffenen Kleinganoven Ui mit Ambitionen nach oben. Der ein ums andere Mal vor Wut rot anlaufende Möchtegerntyrann ringt da noch um Aufmerksamkeit.

Mit Hilfe eines Provinzschauspielers (großartiger Spaß von Norman), der ihm publikumswirksames Auftreten vermittelt, aber vor allem durch das Mitwirken der gierigen und geschäftstüchtigen Bosse des Karfioltrustes sowie des korrupten Politikers Dogsborough (Nicolas) gelingt Ui schließlich der Aufstieg zum politischen und wirtschaftlichen Führer über Chicago und die Nachbarstadt Cicero, die er sich ebenso durch Einschüchterung und Mord unterwirft. Diesen am Ende in seiner schwarzen Uniformjacke auftretenden redegewandten Populisten spielt dann grandios H. Peter Maier C.d.F.

Auch die anderen aus Uis Gangsterbande wie Giri (Can Can) Givola (Adrian Zajac) und Roma (Atak) verkörpern gut das System aus Gewalt, Angstverbreitung und Intrige. Dass es sich hier um die Hitlervertrauten Göring, Goebbels und Röhm handelt, ist dabei nicht wichtig. Brecht verarbeitete im Stück auch den Reichstagsbrandprozess als Speicherbrandprozess, in dem die Bande geschickt Lügen verbreitet, Zeugen einschüchtert und umbringt. Die Einverleibung der Stadt Cicero mit ihrem Führer Dullfeet (für Dollfuß), gespielt von Maurice, stellt den Anschluss Österreichs an Deutschland 1938 dar. Auch dafür gibt es Beispiele in der jüngeren Geschichte. Einer Aktualisierung bedarf es darum auch nicht unbedingt. Das Publikum wird sich zu allem seinen Teil denken können.

Ein weiterer Coup der Inszenierung ist die musikalische Begleitung durch drei Musiker der bekannten Berliner Weltmusik-Band 17 Hippies. Orlando de Boeykens (Tuba), Uwe Langer (Percussion, Posaune, Trompete), Volker „Kruisko“ Rettmann (Akkordeon) spielen bekannte deutsche Songs der damaligen Zeit wie Lili Marleen; Mein kleiner grüner Kaktus oder Wenn ich mir was wünschen dürfte, wozu das Ensemble hervorragend im Chor singt. Aber ans Ende ist hier neben den berühmten Brecht-Worten „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“ die Ballade von der Wohltätigkeit von Kurt Tucholsky und Hanns Eisler gestellt. „Für euch der Pfennig. Für sie die Mark“ verdeutlicht gut, worum es damals ging, was aber auch heute noch aktuell ist. Ein scheinbar ewiger Kampf.



Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui mit dem Freiluftgefangenentheater in der JVA Tegel | Foto (C) Mark Schulze Steinen

p. k. - 24. August 2023
ID 14350
DER AUFHALTSAME AUFSTIEG DES ARTURO UI (JVA Tegel, 23.08.2023)
Regie: Peter Atanassow
Bühne: Holger Syrbe
Kostüme: Haemin Jung
Dramaturgie: Franziska Kuhn
Musikalisches Konzept und Arrangements: Christopher Blenkinsop (17 Hippies)
Einstudierung Gesang: Alexandra Rossmann und Vsevolod Silkin
Es spielt das Gefangenenensemble der JVA Tegel: Adrian U., Adrian Zajac, Atak, Can Can, H. Peter Maier C.d.F., Horst Grimm, Jimmy Juma, Jusef, Marco, Maurice, Maximilian Sonnenberg, Mohammad Hassan, Nicolas, Nelson, Norman und Robin
Es begleiten Musiker der 17 Hippies: Orlando de Boeykens (Tuba), Uwe Langer (Percussion, Posaune, Trompete) und Volker „Kruisko“ Rettmann (Akkordeon)
Premiere war am 23. August 2023.
Weitere Termine: 24., 25., 30., 31.08./ 01., 07., 08., 13.-15.09.2023


Weitere Infos siehe auch: https://www.gefaengnistheater.de/


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