Eine
schwache
Stunde
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Contemporary Dance 2.0 von und mit Gauthier Dance//Dance Company Theaterhaus Stuttgart | Foto (C) Jeanette Bak
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Bewertung:
In Stuttgart wird mit Superlativen für alles, was tanzt, nicht gegeizt. Da bleibt keine Luft nach oben. Wo jedes Mittelmaß in den höchsten Tönen gepriesen wird, können auch ein Eric Gauthier und seine Compagnie nicht mehr sein als ein Anlass zum Jubeln. "Nacht muss es sein, wo Friedlands Sterne strahlen." Wo die Mittagssonne blendet, sind alle Katzen grau und auch Gauthiers Ausnahmeproduktionen nur Teil der routinemäßigen Anlässe zur Exaltation. Das Bessere ist der Feind des Guten. Wenn schon das Gute oder gar das Mittelmäßige als Bestes gehandelt wird, bleibt das tatsächlich Beste auf der Strecke.
Schenkte man den stehenden Ovationen der brüllenden Fangemeinde Glauben, könnte man annehmen, dass Contemporary Dance 2.0 zum Besten gehört, was man auf dem Gebiet des Tanztheaters in der jüngeren Vergangenheit sehen konnte. Die Wahrheit ist: nur die Höflichkeit hindert einen, es Schmarren zu nennen. Es hat mit der Oberflächlichkeit des Fernsehballetts mehr zu tun als mit der Avantgarde, die man bei Gauthier anzutreffen gewohnt ist. Hinter dem Understatement-Titel verbirgt sich ein knapp einstündiges Ballett des Israeli Hofesh Shechter, der zurzeit Hauschoreograph bei Gauthier Dance ist, und es muss sich den Abend mit keinem anderen Stück teilen. Shechter hat auch die Musik des Balletts geschrieben, das bereits 2019 von der aus 31 Tänzer*innen bestehenden GöteborgsOperans Danskompani und danach, in veränderter Form, von Shechters eigener Nachwuchscompagnie aufgeführt wurde.
Contemporary Dance 2.0 besteht ausschließlich aus Ensembleszenen. Auf Soli oder Paare wird verzichtet. Die Tänzerinnen und Tänzer treten von hinten im Gegenlicht durch den Bühnennebel auf, hopsen meist parallel und gelegentlich auch gegenläufig umher und verklumpen sich ab und zu zu einer amorphen Masse. Die Teile des Balletts tragen Titel wie „Pop“, „With Feelings“, „Mother“, „Contemporary Dance“ und „The End“, aber tänzerisch wirken sich diese kaum aus. Die Formensprache bleibt vom Anfang bis zum Schluss die gleiche. Auch ein hochgehaltenes Friedenssymbol ist nicht mehr als ein äußerlicher Reiz ohne Konsequenzen.
Die Musik wiederholt stampfend immer wieder maximal vier Takte. Ihre begrenzte Genialität wird wahrnehmbar, wenn zum vierten Teil Bach erklingt. Das Bessere ist auch der Feind des Schlechten. Zum Schlussteil singt Frank Sinatra Paul Ankas My Way. Ein unfreiwilliger Witz bei einem Ballett, das das genaue Gegenteil von Individualismus vortanzt.
Die Ankündigung im Internet spricht von „Überwältigungskino“. Vielleicht liegt darin der entscheidende Irrtum: dass Hofesh Shechter nicht zwischen Tanz und Kino unterscheidet. Die besten Stücke von Gauthier Dance, das jetzt den Zusatz Dance Company Theaterhaus Stuttgart trägt, waren entschieden, was im Namen steht: Tanz eben. Und das machte ihre Stärke aus. Kino können Martin Scorsese oder Wim Wenders besser als Hofesh Shechter.
Der zweite Hauschoreograph von Gauthier Dance ist Marco Goecke. Zu seinen Arbeiten verhält sich Contemporary Dance 2.0 wie der Eurovision Song Contest zu den Donaueschinger Musiktagen. Egal. Die Standing Ovations setzen jeden Einwand ins Unrecht. Und der achtzigjährige Egon Madsen verneigt sich in seiner Funktion als Company Coach, als wüsste er’s nicht besser.
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Contemporary Dance 2.0 von Hofesh Shechter | Foto (C) Jeanette Bak
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Thomas Rothschild - 17. Juni 2023 ID 14255
Contemporary Dance 2.0 (Theaterhaus Stuttgart, 16.06.2023)
Choreographie und Musik: Hofesh Shechter
Lichtdesign: Tom Visser
Originales Kostümdesign: Osnat Kelner
Choreographische Assistenz: Chien-Ming Chang
Technischer Berater: Alan Valentine
Mit: Louiza Avraam, Anneleen Dedroog, Barbara Melo Freire, Gaetano Signorelli, Sidney Elizabeth Turtschi, Giovanni Visone und Shori Yamamoto
Premiere war am 16. Juni 2023.
Weitere Termine: 17., 18., 21.-25., 29., 30.06./ 01., 02., 05.-08.07.2023
Eine Theaterhaus Stuttgart Produktion In Zusammenarbeit mit Hofesh Shechter Company
Weitere Infos siehe auch: https://www.theaterhaus.com
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