As dreams
are made on
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Der Sturm am Schauspiel Stuttgaet | Foto (C) Toni Suter
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Bewertung:
Wer die „Romanze“ Der Sturm kennt, was nicht schwer fällt, weil sich Shakespeares spätes Stück, wenn der Eindruck nicht täuscht und aus welchen Gründen auch immer, zurzeit auf den Bühnen besonderer Beliebtheit zu erfreuen scheint, und den aus Luxemburg stammenden, vorwiegend aber in der Schweiz und in Deutschland auftretenden Ausnahmeschauspieler André Jung, ahnt schon vor der Premiere, wie der prominente Gast beim Stuttgarter Ensemble den Prospero anlegen wird. Und genau das tut er. Jung bleibt Jung, egal welchem Regisseur er sich gerade anvertraut. Am Schauspiel Stuttgart ist es dessen Intendant Burkhard C. Kosminski.
Einerseits werden wir nun schon geraume Zeit belehrt, dass das Geschlecht – Sex und Gender – von weitaus größerer Bedeutung seien als Klassenzugehörigkeit, soziale Herkunft und angeborener oder erworbener individueller Charakter. Wer das für Ideologie („falsches Bewusstsein“!) hält, macht sich der Blasphemie verdächtig. Andererseits herrscht auf der Bühne Beliebigkeit. Shakespeare lässt keinen Zweifel daran, dass Prospero, Ariel und Caliban männlichen Geschlechts sind. Wir wissen, dass zu Shakespeares Lebzeiten auch die weiblichen Rollen von Männern gespielt wurden. In den darauffolgenden Jahrhunderten wurden die Figuren von Darsteller*innen verkörpert, deren Geschlecht mit dem der Rollen übereinstimmte. Heute regiert Anarchie. Prospero kann ein Mann sein, aber auch eine Frau (Helen Mirren, Maria Happel). Ariel und Caliban können Männer sein, aber auch Frauen (Therese Affolter, Susana Fernandes Genebra, Mavie Hörbiger, Kirsten Dene). Und ehe mich nun jemand verdächtigt, ich würde den Frauen diese schönen Rollen nicht gönnen: ich fand auch nicht, dass Eines langen Tages Reise in die Nacht dadurch gewonnen hätte, dass Peter Kurth, so begabt er ist, die Mary Tyrone gespielt hat.
In Stuttgart wäre man leichtsinnig, hätte man das Gastengagement eines genialen und ungemein vielseitigen Schauspielers wie André Jung, kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag, nicht genützt, ihn den Prospero spielen zu lassen. Aber immerhin hat man die Rollen von Ariel und Caliban zwei Frauen zugeteilt: Sylvana Krappatsch und Evgenia Dodina.
Dahin sind die Zeiten, da sich Dramaturgen und Regisseure bei Jan Kott oder Stephen Greenblatt über Shakespeares Absichten und Subtexte erkundigt haben. Dass im Sturm der Kolonialismus den historischen Hintergrund abgibt, ist eine Binsenweisheit. Aber machen sich jene, die sich über den Elisabethaner stürzen, bewusst, dass der Kolonialismus für einen englischen Dramatiker des 17. Jahrhunderts ebenso selbstverständlich und daher nicht hinterfragbar war wie für uns Heutige die Tatsache, dass die modernen Sklaven aus von Hunger und Kriegen geplagten Regionen die miserabel bezahlte Drecksarbeit für die deutschen Herrenmenschen erledigen?
Und so rätselt man, was sich Kosminski zu der problematischen Figur des Caliban so gedacht haben mag. Halb Tier, halb Mensch mit vier Beinen spricht er bzw. sie, Evgenia Dodina, mit Akzent. Was aber bedeutet es, wenn die einzige einheimische Figur auf der Insel mit Akzent spricht, also als Fremder markiert ist? Das ist die Sicht der Kolonialisten, wie auf die Ureinwohner Amerikas in den „Indianerfilmen“ der fünfziger Jahre.
Das Vertrackte am Sturm liegt darin, dass man geneigt ist, mit Prospero zu sympathisieren, weil ihm Unrecht geschehen ist. Zugleich aber vollzieht er Handlungen, die gegen ihn sprechen. Das muss man gestalten können. Der verfolgte Verfolger, der verzauberte Zauberer ist eine Herausforderung, für seinen Darsteller wie für die Zuschauer, die ihn beurteilen. André Jung ist kein heldischer Typ, kein Prahlhans der großen Gesten. Er nimmt sich stets zurück, vertraut auf die Kraft der Andeutung. Und gerade das macht seinen Prospero interessant.
Kosminski unterstreicht in der Inszenierung des stark gekürzten Stücks dessen märchenhafte Elemente, aber die Sprache von Jens Roselts Übersetzung kommt ziemlich poesiefrei daher. Ariel betritt die Bühne auf einer Schaukel, mit der er bzw. sie, die wunderbare Sylvana Krappatsch, eine Papierwand durchschlägt. Immer wieder deuten Details darauf hin, dass das alles der Stoff ist, aus dem die Träume gemacht sind oder vielmehr das Theater gemacht ist. Schon zu Beginn erzeugt das Ensemble mit Mund und Händen vor Mikrophonen den titelspendenden Sturm, später werden Vorhänge auf- und zugezogen. Die Schiffbrüchigen nähern sich dem Vordergrund zu Purcells stets wirkungsvollem Cold Song aus King Arthur. Und die junge Camille Dombrowsky beweist als Prosperos naive Tochter Miranda einmal mehr, dass sie ganz toll singen kann.
Schließlich findet die Inszenierung das richtige Maß an Komik. Sie gibt weder der Versuchung zum Klamauk nach, noch der Verlockung, die Clownsszenen zwischen Trinculo (Sven Prietz) und Stephano (Christiane Roßbach) an prätentiösen Tiefsinn zu verraten. Fast wäre man geneigt, den Abend mit 5 K's („nicht zu toppen“) zu bewerten, wäre da nicht, alas, die Erinnerung an die tatsächlich unüberbietbare Fassung von Peter Brook. Sie hatte unter anderem den unermesslichen Vorteil, von Shakespeare und nicht von Jens Roselt zu stammen.
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Der Sturm am Schauspiel Stuttgaet | Foto (C) Toni Suter
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Thomas Rothschild – 23. April 2023 ID 14159
DER STURM (Schauspiel Stuttgart, 22.04.2023)
Inszenierung: Burkhard C. Kosminski
Bühne: Florian Etti
Kostüme: Ute Lindenberg
Musik: Hans Platzgumer
Licht: Rüdiger Benz
Choreographie: Louis Stiens
Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger
Mit: David Krahl (Alonso), Felix Strobel (Sebastian), Reinhard Mahlberg (Antonio),
André Jung (Prospero), Marco Massafra (Ferdinand), Evgenia Dodina (Caliban),
Sven Prietz (Trinculo), Christiane Roßbach (Stephano), Camille Dombrowsky (Miranda) und Sylvana Krappatsch (Ariel)
Premiere war am 22. April 2023.
Weitere Termine: 26., 28.04./ 06., 14., 30.05/ 07., 08., 12., 19., 29.06./ 08., 15.07.2023
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-stuttgart.de
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