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Premierenkritik

Generationen-

übergreifend

heimatlos



Jacob Z. Eckstein, Julia Kathinka Philippi und Riccardo Ferreira in Fremd am Theater Bonn | Foto © Matthias Jung

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Vergessen erscheint unmöglich. Jüdische Menschen sind auch heute oft noch ohne Zutrauen in die Gesellschaft Deutschlands.

Ein trauriger, suchender Blick; das Kinn nachdenklich in die rechte Hand gestützt, den linken Arm schützend um den nackten Oberkörper gelegt, eine lichte und trotzdem kalte Umgebung - Not, Verlassenheit und Verletzlichkeit drückt das Selbstporträt der jüdischen Künstlerin Anita Rée von 1930 in farbiger Intensität meisterhaft aus. Die politische Diffamierung trieb die Hamburgerin 1933 in den Freitod. Der Künstlerinnen-Kalender zeigt ihr Werk in der 37. Kalenderwoche, in eben jener Woche, in der auch Fremd (nach dem autobiografischen Buch von Michel Friedman) am Theater Bonn Premiere hat.

Die literarische Vorlage behandelt das Aufwachsen mit einer jüdischen Glaubenszugehörigkeit und damit einhergehende existentielle Ängste, Einsamkeit, Fragen nach Identität und Zugehörigkeit. Die deutsch-kurdische Regisseurin Emel Aydoğdu schafft in ihrer pointierten Adaption eindringliche Bilder, in denen ihre drei Charaktere miteinander und umeinander ringen, aber auch stets mit Momenten der Einsamkeit hadern und über eigene Ängste sinnieren.

Drei Akteure bewegen sich auf der Bonner Werkstadtbühne entlang eines großen, drehbaren, dunklen Scheibenelementes, das optisch wie ein stilisierter, vergrößerter Mülleimer-Deckel anmutet. Stimmungsvoll wechseln sie sich zwischen Kinder- und Elternrolle ab. Sie spielen eine Familiendynamik durch: Mutter (Julia Kathinka Philippi), Vater (Riccardo Ferreira) und Kind (Jacob Z. Eckstein) bewegen sich dabei chronologisch auch in zeitlichen Sprüngen. Jacob Z. Eckstein sagt in der Rolle des Kindes: „Ich bin auf einem Friedhof geboren und der jüngste Friedhofsverwalter.“

Friedmans autobiographisch gefärbter Text, zwischen Lyrik und Prosa, klagt eine Kontinuität des Antisemitismus in Deutschland an. Erfahrungen von Ausgrenzung, Ablehnung und des sich Fremdfühlens werden als exemplarisches Schicksal am Beispiel einer Familiengeschichte in Deutschland erzählt.

Die drei Figuren stammen aus Polen und leben als jüdische Einwanderer in Deutschland in ständiger Angst. Zunächst geht es in Deutschland um den Erhalt guter Papiere und möglicher Stempel. Die Eltern erzählen ihrem Kind bald – plötzlich leidenschaftlich ausrufend – dass für sie Schreie der Holocaust-Toten leibhaftig den Seelenfrieden zerfetzen. Nebenbei thematisieren sie das Gejagtwerden in Albträumen, begründet durch die Shoa. Das Kind misstraut der Demokratie hierzulande. Ihm erscheinen die Deutschen zu gleichgültig, müde und abgestumpft. Das Hotelpersonal biete in Deutschland womöglich den Service Töten an, so das Kind. Ins Publikum blickend betont es sein Misstrauen gegenüber Aufsehern, Beamten oder Zoowärtern. Als ihm seine Eltern aufzählen, wovor es alles Angst haben sollte, wird es wütend.

Bilder einer Beengtheit und voller Lebenstraurigkeit bestimmen das Bühnenspiel. Die Eltern lehren ihr Kind in poetischer Sprache scheinbar unlösbare Aufgaben: „Lerne, nicht reduziert werden.“ Das Kind gewahrt selbst bei den Eltern jedoch einen „Stillstand, Rückstand und Lebensnotstand“.

Besonders beeindruckend ist ein Spannungsmoment in der Kinder-Elterndynamik, als das erwachsene Kind ein Stipendium in New York erhält. Julia Kathinka Philippi forciert nun mit ausdrucksstarker Musicalstimme in der Rolle des Kindes Frank Sinatras „New York, New York“, atmosphärisch begleitet vom Bühnenmusiker Yotam Schlezinger. Das Kind ruft aus: „Ich bin glücklich.“ Es ist überrascht, als sich die Eltern nicht mit ihm freuen. Sie wollen es nicht gehen lassen. Das Kind erklärt nachdenklich, es „bleibe freiwillig in diesem wir“.

Voller berührender Drehmomente innerhalb der Rollen und im Bühnenspiel bleiben Bilder einer Heimat- und Hoffnungslosigkeit über Generationen, in denen es für Fremdheitserfahrungen scheinbar keinen Gegenort gibt.



Fremd am Theater Bonn | Foto © Matthias Jung

Ansgar Skoda - 20. September 2024 (2)
ID 14925
FREMD (Werkstatt, 14.09.2024)
nach Michel Friedman

Regie: Emel Aydoğdu
Ausstattung: Eva Lochner
Musikalische Leitung: Yotam Schlezinger
Licht: Ewa Górecki
Dramaturgie: Sarah Tzscheppan
Mit: Julia Kathinka Philippi, Jacob Z. Eckstein und Riccardo Ferreira sowie Yotam Schlezinger (Musik)
Premiere am Theater Bonn: 14. September 2024.
Weitere Termine: 22., 24.09./ 05., 12., 19., 24.10.2024


Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de


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