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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Ein Abend mit

Texten von

Thomas Brasch



Halts Maul, Kassandra! am DT Berlin | Foto (C) Thomas Aurin

Bewertung:    



Ein Jahr Pause haben sich das Regieduo Tom Kühnel & Jürgen Kuttner nach ihrem Fanny-van-Dannen-Abend Forever Yin Forever Young am Deutschen Theater gegönnt. Nun sind sie mit einer Ton-, Bild- und Textcollage zum Dichter, Dramatiker und Filmregisseur Thomas Brasch (1945-2001) zurückgekehrt. Halts Maul, Kassandra! heißt die neue Inszenierung der beiden. Eine Zeile aus Braschs Gedicht Ödipus. Kassandra, die antike Seherin, auf die niemand hört. Auch der Sozialismus hatte einen Klumpfuß und war in seinem Fortschrittsdenken blind. Das ist auch noch heute so. „Halts Maul, Kassandra! sind wir.“ meint Jürgen Kuttner in einer Einführung zum Abend. Sei es Klimawandel, Wirtschaftskrise, oder wer der nächste Kanzler ist - niemand will das wissen.

Den Bogen zu Brasch bekommt Kuttner auch noch. Ein Dichter, der in der DDR nicht veröffentlichen konnte. Verbote und Verweise pflastern seinen frühen Weg. Weder das Studium der Journalistik in Leipzig noch das der Dramaturgie an der Potsdamer Filmhochschule kann der als Sohn jüdischer Emigranten 1945 in England geborene Brasch beenden. Nach einer Flugblattaktion gegen den Einmarsch der Armeen des Warschauer Pakts in die ČSSR während des Prager Frühlings 1968, wurde er von seinem Vater, dem stellvertretenden Kulturminister der DDR angezeigt und drei Monaten Haft als Fräser zur Bewährung in die Produktion geschickt. 1976 erfolgte die Ausreise nach West-Berlin, wo sein Erzählband Vor den Vätern sterben die Söhne wenig später endlich erscheinen konnte.

Nach einem Vorspiel vor dem Vorhang, bei dem Schauspieler Jörg Pose im Pierrot-Kostüm eine surreale Passage aus dem Prosaband Mädchenmörder Brunke vorträgt, folgt eine nachgespielte Szene aus Braschs erstem Film Domino mit Katharina Thalbach, bei der die DarstellerInnen zu den O-Tönen aus dem Off lediglich die Lippen bewegt. Die Geschichte einer Theaterschauspielerin in der Krise mit auserlesendem Ensemble. Das passt sicher gut, auch wenn man als Nichteingeweihter vielleicht nicht gleich in den Abend reinfindet. Ein sehr schönes Filmdokument aus frühen Jahren hat Kuttner aber auch noch dabei. Eine Probenszene zu Braschs Vietnamprogramm aus dem Jahr 1966 an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, das auch verboten wurde.

Die weitere Textauswahl ist dennoch recht speziell. Ein Text aus Kargo: 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen steht da neben einer weiteren Passage aus Braschs letztem Film Der Passagier - Welcome to Germany. Beide verhandeln Künstler-Geschichten parallel aus der DDR und BRD. Dazwischen Thomas Brasch, der nach dem Wechsel in den Westen, die DDR nicht vergessen kann und nicht den Dissidenten spielen will. Eine Leck-mich-am-Arsch-Haltung, die sich im Text Der Zweikampf nach der antiken Marsyas-Sage manifestiert. Auch die Rede zum Bayrischen Filmpreis für seinen Erstling Engel aus Eisen, bei der er in Anwesenheit von Franz Josef Strauß der Filmhochschule der DDR für seine Ausbildung und den Verhältnissen, für ihre Widersprüche dankte, darf nicht fehlen. Gezeigt im Original mit Kommentaren aus der DT-Loge.

Die TV-Reportage Annährungen an Thomas Brasch, ein Portrait von Georg Stefan Troller aus dem Jahr 1977, spielt im großen Kegelstumpf auf der Bühne (Jo Schramm), der im Inneren eine tunnelartige Spielfläche freigibt und auf dessen Außenwände Videos projiziert werden können. Felix Goeser als Interviewer, Mareike Beykirch als Brasch und Anja Schneider als Katharina Thalbach reenacten das zu O-Tönen aus dem Off. Brasch fühlte sich damals als für das Publikum angerichtetes Schnitzel. Als Künstler blieb er auf der Mauer, die als sie fiel, als Reibungsfläche fehlte, was wie bei Heiner Müller zu einer Schreibblockade führte. Das und einiges mehr erfährt das Publikum nach der Pause, des mit fast drei Stunden doch recht langen Abends, der auch musikalisch einiges zu bieten hat.

Anja Schneider singt den Ton-Steine-Scherben-Hit Macht kaputt, was euch kaputt macht und fällt mit Halt dich an deiner Liebe fest immer wieder in einen anderen Scherben-Song. Das zeigt sehr schön die Zerrissenheit Braschs, dessen Wut Benjamin Lillie im Song Komm wir lassen uns erschießen der West-Berliner Punk-Band Ideal ins Publikum brüllt. Mareike Beykirch singt den Renft-Song Nach der Schlacht. Ein Abgesang auf die Heroen des Kampfes für den Sozialismus. Begleitet wird das von den Live-Musikern Matthias Trippner, Tilmann Dehnhard und Jan Stolterfoht.

*

Nach der Pause geht es um den Generationenkonflikt, den Brasch vor allem mit seinem Vater auszutragen hatte. Fliegen im Gesicht, gespielt von Benjamin Lillie und Jörg Pose, erzählt von der Begegnung eines jungen DDR-Bürgers vor der Flucht mit einem Veteran der Arbeiterbewegung. Auch ein Brief des Vaters an den Sohn in der Kadettenanstalt und dessen spätere Versuche bereits im Westen darauf zu antworten haben Kuttner & Kühnel in großer Recherchearbeit aus den Archiven gefischt. Braschs Gedichte, an der Rampe vorgetragen, verfehlen ihre Wirkung nicht. Peter René Lüdicke als Gammler und Jörg Pose als übergroßem Geist der DDR mit Engelsflügeln haben noch einen großen Auftritt in einem Text aus dem Stück Herr Geiler. Schön, das alles mal wieder gehört zu haben, allzu oft werden Stücke von Brasch (außer vielleicht Mercedes) nicht gespielt. Texte aus Vor den Vätern sterben die Söhne haben es zumindest in Dessau, Dresden und Stuttgart mal auf die Bühne geschafft.

Kuttner lässt zum Ende hin noch recht pathetisch Der Findling aus Heiner Müllers Zyklus Wolokolamsker Chaussee spielen. Als Vorlage dienten Müller neben Kleist auch der Zwist zwischen Brasch und seinem Vater. Etwas zu viel für einen Abend vielleicht. Da schaut man im Saal schon mal auf die Uhr. "VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN"/i>, dröhnt Anja Schneider Müllers Text immer wieder ins Premierenpublikum. Man hat es verstanden.



Halts Maul, Kassandra! am DT Berlin | Foto (C) Thomas Aurin

Stefan Bock - 25. November 2024
ID 15029
Halts Maul, Kassandra! (Deutsches Theater Berlin, 23.11.2024)
nach Texten von Thomas Brasch

Regie: Tom Kühnel, Jürgen Kuttner
Bühne: Jo Schramm
Kostüme: Daniela Selig
Musik: Matthias Trippner
Dramaturgie: Bernd Isele
Licht: Cornelia Gloth
Video: Meika Dresenkamp
Mit: Mareike Beykirch, Anja Schneider, Felix Goeser, Benjamin Lillie, Peter René Lüdicke, Jörg Pose, Jürgen Kuttner, Live-Musik: Matthias Trippner, Tilmann Dehnhard, Jan Stolterfoht
Premiere war am 23. Novmber 2024
Weitere Termine: 25., 28.11. / 03., 08., 08., 23.12.2024


Weitere Infos siehe auch: https://www.deutschestheater.de/


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