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Premierenkritik

Der Anti-

Peymann



Birgit Minichmayr in Frank Castorfs Heldenplatz-Inszenierung am Burgtheater Wien | Foto (C) Matthias Horn

Bewertung:    



Zwei Rekorde treffen aufeinander: Thomas Bernhards Heldenplatz, dessen Uraufführung im Jahr 1988 zu einer der erfolgreichsten Inszenierungen von Claus Peymann und zu einem der größten Skandale am Wiener Burgtheater wurde, und Frank Castorf, der meistgelobte Regisseur aus der auf Peymann folgenden Generation. Man konnte gespannt sein, was diese Kombination ergibt, und entsprechend groß war der Andrang zu dem Ereignis. Würde der langjährige Volksbühnen-Leiter eine neue Lesart finden, und wenn ja – würde sie sich gegen Peymanns kanonisierte Version behaupten können?

Viel mehr als der Titel bietet sich als Tertium Comparationis allerdings nicht an. Vor Bernhard und Castorf kommt an der Burg von 2024 Aleksandar Denić (dem das Programmheft, nebenbei, das diakritische Zeichen, als wäre er Franzose, auf das e statt auf das c setzt). Er hat in bekannter Manier mehrere stilisierte monumentale Bauten an der Borough Hall Station der Subway in Brooklyn über den Raum verteilt, die ihre unterschiedlichen Fassaden offenbaren, wenn sich die Bühne dreht.

Frank Castorf hat, wie man es bei ihm erwarten darf, reichlich Texte hinzugefügt, die mit Thomas Bernhard sprachlich und gedanklich so viel zu tun haben wie New York mit dem Heldenplatz. Sie gehorchen den nicht immer nachvollziehbaren Assoziationen des Meisterregisseurs. Und so dauert es 45 Minuten mit nur wenigen Sätzen Bernhards, ehe Birgit Minichmayr als Frau Zittel beim kollektiven Kartoffelschälen demonstrieren darf, wie der verstorbene Professor Josef Schuster seine Hemden gefaltet haben wollte. Was folgt, ist eher ein Heldenplatz-Steinbruch als das Stück, das einst den Wiener Mob auf die Barrikaden getrieben hat.

Ob Dostojewski, Platonov, Hamsun oder eben Bernhard – es wird immer ein Castorf daraus. Birgit Minichmayr spricht Worte, diesmal von Professor Robert Schuster, während sie unter dem Tisch in einen Eimer scheißt. Und man mag sich fragen, warum die Schusters bei Castorf nach Amerika emigrieren mussten, statt, wie bei Bernhard, nach England. Auch wüsste man gerne, nach welchen Kriterien der Regisseur entscheidet, ob Szenen via Kamera als Großaufnahme präsentiert oder ob sie, für Zuschauer im 3. Rang kaum sichtbar, steif an der Rampe positioniert werden. Verbunden sind sie durch den fast durchgängigen Dauerton der Erregung und der Atemlosigkeit.

Sigrid Löffler hat anlässlich der Uraufführung gemutmaßt, dass die wenig liebenswürdige Zeichnung der Schusters und deren ständige Übertreibungen nicht dazu angetan seien, bei den (antisemitischen?) Zuschauern Empathie für sie zu erzeugen. Bei Castorf werden, schon durch die Verteilung der Rollen auf wechselnden Darsteller*innen, gar nicht erst Figuren entwickelt. Birgit Minichmayr, die im Tonfall an ihren Emanuel Striese erinnert, tritt an einer Stelle als Robert Schuster ganzkörperbandagiert, wie in einer Zwangsjacke auf, als hätte Gottfried Helnwein den Entwurf geliefert. Von der Verzweiflung eines Wolfgang Gasser in Peymanns Inszenierung ist da nichts mehr geblieben. Und auch die kreischende Marie-Luise Stockinger lässt einen, pardon, mit Wehmut an Kirsten Dene in der Rolle der Anna denken. Man mag es bedauern oder bewundern, aber Thomas Bernhards Dramen sind halt eher Schauspieler- als Videotheater. Titel wie Minetti [vgl. auch Einfach kompliziert] oder Ritter, Dene, Voss machen das deutlich.

*

Bernhard und Peymann endet das Stück mit einem genialen Einfall: Die Witwe des toten Josef Schuster halluziniert zunehmend „Sieg Heil!“-Geschrei (vom Heldenpatz her eben). Es wird, auch für die Zuschauer, immer lauter. Da stürzt die Frau Schuster mit dem Kopf auf den Tisch.

Bei Castorf, wo man eben noch in Amerika war, stürzt niemand. Alle verneigen sich, als wären sie erleichtert, dass fünf Stunden glimpflich verlaufen sind, an der Rampe.

Davor wird an das dem Bundeskanzler Franz Vranitzky (fälschlicherweise) zugeschriebene, auf Thomas Bernhard gemünzte Zitat "Wer Visionen hat, braucht einen Arzt" erinnert. Bei Castorf benötigt man keinen Arzt. Höchstens Google, zur Identifikation der Textstellen.




Heldenplatz (Regie: Frank Castorf) am Burgtheater Wien | Foto (C) Matthias Horn





Thomas Rothschild - 18. Februar 2024
ID 14607
HELDENPLATZ (Burgtheater Wien, 17.02.2024)
Regie: Frank Castorf
Bühnenbild: Aleksandar Denić
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Musik: William Minke
Videodesign: Andreas Deinert
Lichtdesign: Lothar Baumgarte
Live-Kamera: Andreas Deinert und Andrea Gabriel
Live-Videocutter: Georg Vogler und Eduardo Triviño Cely
Tonangler: Adam El-Hamalawi und Kilian Mayer
Dramaturgie: Sebastian Huber
Künstlerische Mitarbeit: Sebastian Klink
Mit: Marcel Heuperman, Inge Maux, Birgit Minichmayr, Franz Pätzold, Branko Samarovski und Marie-Luise Stockinger
Premiere war am 17. Februar 2024.
Weitere Termine: 20., 24.02./ 03., 22., 28.03.2024


Weitere Infos siehe auch: https://www.burgtheater.at


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