“Klein H. “
oder so
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Tora Augestad (li.) singt Schlager in Marthalers Wachs oder Wirklichkeit - an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz | Foto (C) Matthias Horn
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Bewertung:
Christoph Marthaler & Co. sind zurück in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz – jahrzehntelang war sie eines der künstlerischen Heimspielorte des Schweizers und seiner Mitstreiter; ihr letztes großes Ding vor Ort hieß Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter und galt wohl auch als eine Art von Abschiedsvorstellung mit viel, viel eingearbeiteter Erinnerungsleistung, das ist nun schon wieder neun Jahre her; seitdem folgten (in der Nachfolge Frank Castorfs) zwei Volksbühnenintendanten nach, der eine (Chris Dercon) zog sich mehr oder weniger freiwillig zurück, der andere (René Pollesch) verstarb völlig unerwartet im letzten Jahr…
Nunmehr – inmitten einer weiteren Interimsphase des Hauses – schlug die Old Family an dem für sie vertrauten Spielort wieder auf und präsentierte ihre neueste Arbeit:
WACHS ODER WIRKLICHKEIT ist sie übertitelt und enthält Texte des Schweizer Schriftstellers und Übersetzers Jürg Laederach (1945-2018). Und wer (über die Insider-Gemeinde hinaus) von jenem bis dahin noch nichts gehört oder gelesen haben sollte, fühlte sich dann am Premierenabend etwas aufgeschmissen [mir persönlich ging’s tatsächlich so, ich hätte mich umfänglich vorbereiten sollen].
So verweist der Beipackzettel auf folgende Werke des Schweizers, mit denen die Marthaler’s herumspielen: Das ganze Leben; Flugelmeyers Wahn. Die letzten sieben Tage; Emmanuel und Hitler in Pankow South. [Und kennt die wer von Ihnen? Sehen Sie, ich auch nicht.] Insbesondere das Letztgenannte – angeblich (lt. Clemens Sienknecht, dem musikalisch-musikantischem Oberhaupt der Marthaler-Performance) ein dreiteiliges Oratorium von Laederach – dient den Akteurinnen und Akteuren (neben Sienknecht sind das Magne Håvard Brekke, Rosa Lembeck, Franz Beil, Hildegard Alex, Olivia Grigolli und Jürg Kienberger) als Vorlese-Theater… Auf der Rowohlt-HP, die das Laederach-Opus als “frei zur Uraufführung” markiert, wird es wie folgt erklärt:
“Ein Stück über ein zweigeteiltes Land und ein Stück zeitloser deutscher Landschaft. Hier treffen Staatsmänner aufeinander, historische Figuren mutieren und duplizieren sich: Sie sind die Designer der Szenerie, blicken auf ihr Modell, lassen auf dem Hinterprospekt ihre Filme ablaufen. Hitlers Stimme schaltet sich ein - mit seinem Kommentar müssen alle leben. Strategien werden entwickelt, Reviere abgesteckt, Rollen verteilt. Macht basiert auf Geld, regime-übergreifend: ‘Das Leben ist eine weiße Fläche, von der machst du Abzüge auf einer Maschine, dann hast du mehrere Flächen, mehrere Leben, du brauchst nur eins, also verkaufst du die anderen.’ Im Vakuum dieser Schattenkämpfe stellt sich die Frage nach der Macht des Volkes völlig neu.”
Alles klar soweit?
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WACHS ODER WIRKLICHKEIT an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz: Magne Håvard Brekke, Rosa Lembeck, Franz Beil, Hildegard Alex, Olivia Grigolli und Jürg Kienberger (vorderste Reihe v.l.n.r.) zitieren aus Jürg Laederachs Hitler in Pankow South… | Foto (C) Matthias Horn
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Es geht also weit über anderthalb Stunden lang, rein textlich, drunter und drüber, und der (textlich) Unvorbereitete hat ziemliche Mühe, dem allen irgendwie geistig folgen zu können [aber das bemerkte ich ja schon].
Gottlob wird dann – wie stets bei Marthaler’s – reichlich gesungen und musiziert. Die Norwegerin Tora Augestad muss da zuvörderst genannt werden, und außer dass sie (als verlebendigte Wachsfigur von Taylor Swift) den einen oder anderen belanglosen Schlager trällert, brilliert sie auch (in der Gruppe) als Kennerin und Könnerin von Gesualdo- oder Monteverdi-Madrigalen.
In dem Zusammenhang darf ebenso Franz Grothes “Ganz leise kommt die Nacht” nicht ungenannt bleiben – Hildegard Alex (83!), der legendäre Volksbühne-Altstar, singt und haucht es derart abgehoben-schön, dass ich beim Hören fast den Verstand zu verlieren drohe; unvergesslich!
Anna Viebrock, die die Bühne konzipierte, ließ paar Wachsfiguren des Hamburger Panoptikums, die sie hierein platzierte, nachbauen. Ich identifizierte da z.B. Helmut Schmidt, Karl Lagerfeld, Heino, Horst Lichter oder Kent Nagano… In realo werden sie dann auch (Kostüme: Dorothee Curio) von Rosa Lembeck alias Lady Di, Magne Håvard Brekke alias Einstein, Altea Garrido alias Vitali Klitschko oder halt Hildegard Alex alias Queen Elizabeth II “nachgestellt” und “nachempfunden”.
Großer Beifall.
[Ich für meinen Teil hatte dann allerdings schon ungleich bessere Marthaler’s gesehen und gehört.]
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Andre Sokolowski – 15. März 2025 ID 15187
WACHS ODER WIRKLICHKEIT (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 13.03.2025)
von Christoph Marthaler, Anna Viebrock, Malte Ubenauf und Ensemble
Regie: Christoph Marthaler
Musikalische Leitung: Tora Augestad, Jürg Kienberger und Clemens Sienknecht
Bühne: Anna Viebrock
Kostüme: Dorothee Curio
Licht: Frank Novak
Dramaturgie: Malte Ubenauf und Sabine Zielke
Mit: Hildegard Alex, Tora Augestad, Franz Beil, Magne Håvard Brekke, Olivia Grigolli, Altea Garrido, Jürg Kienberger, Rosa Lembeck und Clemens Sienknecht
Premiere war am 13. März 2025.
Weitere Termine: 15., 23., 24.03./ 04., 12.04.2025
Weitere Infos siehe auch: https://www.volksbuehne.berlin
https://www.andre-sokolowski.de
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