Der Kopf
im Nacken
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David Moore in The Place of Choice von Roman Novitzky | (C) Stuttgarter Ballett
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Bewertung:
In der Stuttgarter Oper gibt es eine Gedenktafel für die jüdischen Mitglieder des Hauses, die zwischen 1933 und 1945 die Oper verlassen, ins Exil gehen mussten, deportiert und ermordet wurden oder von deren weiterem Schicksal nichts bekannt ist. Die Gedenktafel wurde 2016, vor acht Jahren enthüllt. Wenn man nah genug ran geht, kann man die Namen derer, derer gedacht wird, lesen. Zwei Meter links davon hängt eine Tafel mit den besser lesbaren Namen derer, denen man dankt. Dazu zählen unter anderem Ferry Porsche und die Dr. Ing. h. c. F. Porsche GmbH. Beide, Vater und Sohn, waren in der NSDAP und in der SS. Man dankt also jenen, die dem Regime gedient haben, das jene vertrieben und ermordet hat, derer man, wenn auch mit großer Verspätung von 70 Jahren, gedenkt. So viel Schizophrenie ist schon eindrucksvoll. Aber nicht überraschend. So findet in der Stuttgarter Oper jeder Besucher die Stelle, an der er gedenken oder danken kann, ehe er sich am Buffet seinen Sekt holt. Je nach Gusto.
Nazi oder Opfer der Nazis, Mitglied der SS oder von der SS gejagt: egal. Hauptsache drinnen im Saal wird gesungen und getanzt. Und sei es mit dem Geld und den Zinsen aus der sogenannten Arisierung und den Erträgen der Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen.
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Nun also: ein Abend der großen Form. Uraufführung von zwei rund einstündigen Balletten, das eine von dem Slowaken Roman Novitzky, das andere von dem älteren Engländer David Dawson.
Es beginnt mit einem langen Solo von David Moore [s. Foto o.re.], elegant, fast verhalten, frei von auftrumpfendem Imponiergehabe. Wenn diese Introduktion „Hamlet“ hieße, schiene das nur plausibel. Es heißt aber The Place of Choice, und die Musik ist eine Auftragskomposition des Amerikaners Henry Vega. Zu dem Solisten gesellen sich mehr und mehr Paare in spärlichem Weiß. David Moore, einer der beliebtesten Stars im Stuttgarter Ensemble, beobachtet sie, fügt sich nach und nach in die Arrangements des Corps de Ballet. Nach exakt einer halben Stunde steht er wieder allein auf der Bühne. Dann verdüstert sich diese zu einer Art Verlies, groß genug, um dem umfangreichen Ensemble Platz zu bieten, ein Gemisch aus Dantes Inferno und Gorkis Nachtasyl.
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Henrik Erikson, Elisa Badenes, Matteo Miccini und Satchel Tanner in SYMPHONY NO.2 “Under the Trees’ Voices” von David Dawson | (C) Yan Revazov, mit freundlicher Genehmigung von David Dawson
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Näher am klassischen Ballett sind Dawsons Tänzer*innen im schwarzen Trikot [s. Foto oberhalb]. Es fehlen dem englischen Choreografen, jedenfalls in SYMPHONY NO. 2 „Under the Tree’s Voices“, Novitzkys Ideenreichtum und die Stringenz der Übergänge. Unfreundlich könnte man sagen, dass das streckenweise über Ringelpiez ohne Anfassen kaum hinausgeht. Auch die Musik des jung verstorbenen Italieners Ezio Bosso mutet eher an wie ein Phil Glass oder Terry Riley für Arme. Und auch die Lichtregie ist im Vergleich zu Novitzkys Ballett ziemlich fantasielos. Das Publikum aber war begeistert und spendete noch mehr Applaus als vor der Pause. Nun ja, hüpfen können sie ja, die Stuttgarter Tänzerinnen, und einer von ihnen, Clemens Fröhlich, wirft seinen Kopf so demonstrativ in den Nacken, dass man schon vom Zuschauen seine Halswirbelsäule zu spüren meint.
Soll man sich nun darüber freuen, dass das STUTTGARTER BALLETT so bedingungslos mit seinen Fans rechnen kann, wie der VfB und Porsche, oder soll man sich etwas mehr Differenzierungsvermögen wünschen? Zum Nutzen des Besseren, das bekanntlich der Feind des Guten ist.
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Thomas Rothschild – 29. Juni 2024 ID 14822
NOVITZKY/DAWSON (Opernhaus Stuttgart, 28.06.2024)
Ballettabend des Stuttgarter Balletts
Musikalische Leitung: Mikhail Agrest / Wolfgang Heinz
The Place of Choice (UA)
Choreographie: Roman Novitzky
Musik: Henry Vega
Bühne und Licht: Yaron Abulafia
Kostüme: Aliki Tsakalou
Dramaturgie: Kristian Kohut
SYMPHONY NO. 2 "Under the Trees' Voices" (UA)
Choreographie: David Dawson
Musik: Ezio Bosso
Bühnenbild: Eno Henze
Kostüme: Yumiko Takeshima
Licht: Bert Dalhuysen
AssistentInnen des Choreographen: Christiane Marchant, Rebecca Gladstone und Raphael Coumes-Marquet
Staatsorchester Stuttgart
Stuttgarter Ballett
Premiere war am 28. Juni 2024.
Weitere Termine: 30.06./ 02., 03., 06., 08., 11., 21., 22.07.2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.stuttgarter-ballett.de
Post an Dr. Thomas Rothschild
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