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Premierenkritik

Rastloser

Bühnengag

mit Musik

STERN 111 nach dem gleichnamigen Roman von Lutz Seiler


Stern 111 am Hans Otto Theater Potsdam | Foto (C) Thomas M. Jauk

Bewertung:    



Es hat fast fünf Jahre gedauert, bis Lutz Seilers 2020 erschienener Wende-Roman Stern 111, prämiert mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, doch noch den Weg auf die Bühne gefunden hat. Bei Seilers Vorgänger Kruso, der immerhin den Deutschen Buchpreis einheimste, geschah das recht zeitnah mit Adaptionen in Magdeburg, Gera, Leipzig und Potsdam, wo nun auch die erste Bühnenfassung von Stern 111 durch Regisseurin Esther Hattenbach und Dramaturgin Bettina Jantzen am Hans-Otto-Theater zur Uraufführung kam. Dass es nicht eher gelang, ist sicherlich einmal der Corona-Pandemie geschuldet, aber auch der Schwierigkeit, diesen in meist lyrischen Sprachbildern verfassten Roman mit seinen wesentlich komplexer wirkenden und parallel erzählten Handlungssträngen auf die Bühne zu bringen. Und um es vorwegzunehmen, gelungen ist das in Potsdam leider nur bedingt.

*

Den Romanplot in ein paar Zeilen inhaltlich zu umreißen, fällt schon schwer, ihn über drei Stunden nachvollziehbar auf die Bühne zu bringen, erweist sich hier nun als scheinbar unmöglich. Esther Hattenbach und Bettina Jantzen entwickeln ihre Theaterfassung nach Motiven des Romans von Lutz Seiler, wie es in den Credits heißt. Im Programmzettel ist von einem „Akt des Erinnerns und Erzählens“, der nicht „linear und logisch“ erfolgt, als Ansatz für die Umsetzung die Rede. Ein Springen in den Zeiten im Zeitraffer. Die Regisseurin spricht von einem „Erinnerungsstrom“. Das klingt schon kompliziert genug. In Potsdam wird das nun zu einem relativ chaotisch und willkürlich montierten Stationendrama. Eine Reise durch den Roman wie im besagten Zeitraffer. Wie so etwas funktionieren könnte (für viele Zuschauer aber eben auch nicht), zeigen regelmäßig die fragmentarisch und assoziativ gebauten Romanadaptionen von Sebastian Hartmann, die allerdings auf der künstlerischen Bildebene eine Menge an Gedanken und Emotionen mittransportieren.

Etwas Ähnliches hätte man sich auch in Potsdam gewünscht. Textfassung und Regie versuchen aber noch sehr viel an Inhalt zu vermitteln, ohne aber für das den Roman nicht kennende Publikum ausreichend erforderliche Zeit- und Ortsbezüge herzustellen. Es bleibt ein Abend für Insider. Man muss nicht unbedingt politische Eckdaten benennen, und es sind auch keine Vorkenntnisse der Wendegeschichte oder der Underground-Kunst- und Hausbesetzerszene im Prenzlauer Berg erforderlich. Die Regie will es einem aber auch nicht leicht machen, tatsächlich Motive des Romans oder auch für das Handeln der ProtagonistInnen auszumachen. Das beginnt mit der Hauptfigur Carl Bischoff, im Roman ein ziemlich orientierungsloser, an sich zweifelnder junger Mann mit lyrischen Ambitionen, der aus Verzweiflung und Neugier ins winterliche Berlin kurz nach dem Mauerfall fährt und dort Aufnahme ins „Rudel“ des „Hirten“ und Gesellschaftsutopisten Hoffi findet. Paul Wilms spielt Carl die meiste Zeit wie unter Strom über die Bühne wuselnd. Das hat zu Beginn auch durchaus seinen Reiz, wenn schon beim Einlass, Ensemblemitglieder durch den Saal laufen und Wortsplitter aus dem Anfangskapitel auf dem Leipziger Bahnhof rufen.

Auf der fast leeren Bühne von Regina Lorenz-Schweer steht seitlich ein Baugerüst, auf dem die beiden Livemusiker Johannes Bartmes und Michael Koschorreck sitzen. Vor allem Koschorrecks E-Gitarren-Sound begleitet den Abend atmosphärisch sehr schön. Musik ist ja auch ein Motiv des Romans. Da spielt vor allem das Radiogerät Stern 111, mit dem die Familie Bischoff schon in Carls Kindheit viel Musik über Westsender hörte, ein akustisches Fenster zur Welt. In Potsdam röhrt Paul Wilms später, wenn unter dem Folienvorhang am Bühnenhintergrund die Kellerkneipe „Assel“ entsteht, den Wendeklassiker Born In The GDR der Cottbuser Band Sandow. Das könnte schnell ins Ostklischee abgleiten, aber vor allem der alte Westen bekommt hier sein Fett ab. Nachdem Carl im heimatlichen Gera erfährt, dass seine Eltern ausreisen wollen und er sie mit dem Schiguli des Vaters zur gerade geöffnete Westgrenze bringt, teilt sich der Romanplot in Carls Erlebnisse in Berlin und die durch Briefe der Mutter erzählte Geschichte der Eltern, die zunächst noch getrennt versuchen, sich im Westen ein neues Leben aufzubauen. Da fliegen zu Beginn schon mal Bananen über die Bühne.

Franziska Melzer und Philipp Mauritz sind allen West-Widrigkeiten und inszenatorischen Slapstickparaden zum Trotz als unverwüstliches, zielgerichtetes Paar Inge und Walter das ganze Gegenteil ihres Sohnes Carl und der Ruhepol der Inszenierung, die im Hauptteil weiter hektisch durch die Erlebnisse Carls in der Ostberliner Hausbesetzerszene hastet. In vielen Szenen wüsste man ohne den erzählenden Kommentar, der hier wechselnd über alle Ensemblemitglieder verteilt wird, meist nicht, wo man sich gerade befindet. Ein „Plenum“ der verschiedenen Hausbesetzergruppen wird ironisch veralbert. Carl tritt plötzlich unvermittelt mit einer Kalaschnikow und radebrechenden Russen auf. So tauchen Randfiguren auf und wieder ab, fliegen - wie der Hirte Hoffi (René Schwittay) oder Ralf (Arne Lenk) ein Woolworthvertreter und vom schnellen Reichtum verblendetes Wendeopfer - vom Dach. Im Roman sind diese Geschichten nicht ganz ohne Belang, dienen hier aber nur zur rasenden Bebilderung. Auch die Beziehung zur Jugendliebe Effie (Alina Wolff) wird wie nebenbei abgehandelt. Erinnerungssplitter verschwimmen wie die über Overheadprojektor projizierten Gedichtzeilen Carls. Die Utopie einer alternativen Gesellschaft wird zum schnellen Bühnengag.

Es bleiben ein paar live vorgetragene Ostklassiker von Silly, Keimzeit und Gerhard Gundermann im Ohr. Auch Nick Caves Weeping Song wird gecovert. Ein Gespräch zwischen Vater und Sohn, das für Carl, der sich immer außen vor gefühlt hat, mit seinem Vater nie stattgefunden hat. Am Ende des Romans führen die beiden Stränge in Kalifornien wieder zusammen, erzählen die Eltern Carl ihre Geschichte, den Traum von Freiheit, den sie nun endlich verwirklichen. Leider ist der Abend da eine verpasste Chance. So schnell wird sich niemand mehr mit dieser Vergangenheit auseinandersetzen.



Stern 111 am Hans Otto Theater Potsdam | Foto (C) Thomas M. Jauk

Stefan Bock - 1. Februar 2025
ID 15127
STERN 111 (Hans Otto Theater Potsdam, 31.01.2025)
nach Motiven des Romans von Lutz Seiler
Theaterfassung von Esther Hattenbach und Bettina Jantzen

Regie: Esther Hattenbach
Bühne und Kostüme: Regina Lorenz-Schweer
Musik: Johannes Bartmes
Video: Sebastian Merk
Dramaturgie: Bettina Jantzen
Mit: Paul Wilms, Franziska Melzer, Philipp Mauritz, Alina Wolff, Katja Zinsmeister, Hannes Schumacher, René Schwittay, Joanna Kitzl und Arne Lenk sowie den Musikern Johannes Bartmes und Michael Koschorreck (Kosho)
Premiere war am 31. Januar 2025.
Weitere Termine: 09., 16., 28.02./ 07., 09., 15.03.2025


Weitere Infos siehe auch: https://www.hansottotheater.de/


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