Hakan Savaş Mican adaptiert den Debütroman von Dinçer Güçyeter als emotional geladenes Singspiel für Mutter und Sohn
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(C) Esra Rotthoff
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Bewertung:
In seinem autofiktionalen, 2022 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Debütroman Unser Deutschlandmärchen erzählt der Autor Dinçer Güçyeter vom Leben als Sohn türkischer „Gastarbeiter“ in Deutschland. Neben seinen Erfahrungen kommen aber auch die Frauen der Familie wie Mutter, Großmutter und Urgroßmutter zu Wort. Eine sehr poetische Ansammlung von Briefen, Träumen, Liedern und auch Gebeten. Viel Monolog, den Regisseur Hakan Savaş Mican in seiner Bühnenadaption für das Maxim Gorki Theater in einen sprachlichen aber vor allem auch gesanglichen Dialog der Mutter Fatma (Sesede Terziyan) mit ihrem Sohn Dinçer (Taner Şahintürk) überführt.
Begleitet wird das Gespann von einer fünfköpfigen Liveband im Hintergrund. Wobei die MusikerInnen als Nebenfiguren auch mal mit zur Rampe vorkommen. Die Bühne von Alissa Kolbusch ist relativ leer nur mit ein paar Vorhängen aus Glitzerfäden bestückt. Auf den Hintergrund und die Portalwände werden alte Fotos oder Texte projiziert. Dinçer hat seinen Werdegang aus der proletarischen Arbeiterschicht der Kleinstadt zum Künstler und Schriftsteller vollzogen und steht zu Beginn im schwarzen Glitzerkleid der Mutter vor ihrem Zinksarg. Die pinken Stöckelschuhe, die der Achtjährige einst der Mutter von seinem ersten selbstverdienten Geld kaufte, hat er in einem Beutel dabei. Immer noch quält den nun Erwachsenen die Frage, warum sich seine Mutter nicht gegen das von ihr zu erduldende Unrecht gewehrt und zu allem stets geschwiegen hat.
Roman und Inszenierung zeigen das harten Leben einer Frau, die schon mit siebzehn nach Deutschland verheiratet wird, sich nach einem Kind sehnt und dazu als Muslima sogar die Jungfrau Maria anbetet. Sie muss die Erziehung des Sohns und die Ernährung der Familie im Alleingang bewältigen, die Herabsetzungen der türkischen Männer erdulden, die dem unfähigen Vater, der eine Geliebte hat und eine schlecht gehende Kneipe führt, Geld schulden. Und dennoch ist Fatma stolz Arbeiterin zu sein. Das will sie auch für ihren Sohn. Über die Leistung zur Anerkennung. Es geht für Dinçer um die Suche nach der eigenen Identität als Sohn einer türkischen Gastarbeiterin, als Künstler und als Schwuler, der in der Abwesenheit der Mutter ihre Schuhe anzieht und durch die Wohnung tanzt.
Im Roman von Dinçer Güçyeter und der Inszenierung von Hakan Savaş Mican erhält die Mutter, die ein Leben lang hart in der Fabrik und auf dem Feld gearbeitet hat, endlich eine Stimme, und dazu mit gefühlvoll, die Liebe idealisierenden türkischen Volksliedern und Popsongs, gesungen von Sesede Terziyan, noch die von Fatmas Lieblingssängerin Sesen Aksu. Dagegen steht Sohn Dinçer mit seinem Werdegang vom Kind, das schon mit sieben der Mutter heimlich mit aufs Feld folgt, in der Schule Deutsch lernt, seiner Mutter Briefe vorliest und schließlich als Lehrling selbst widerwillig in den Blaumann steigen soll. Taner Şahintürk spielt diesen Sohn als zunächst der Mutter bedingungslos folgend, sich dann aber später auch immer mehr selbst behauptend und widersetzend. Er singt dazu kraftvolle Pop- und Rocksongs von Herbert Grönemeyer, Danzig oder Sisters of Mercy. Regisseur Savaş Mican setzt in seiner Inszenierung voll auf diesen Gegensatz und die emotionale Kraft der Lieder, die den Abend über die Länge von zwei Stunden sehr gut tragen und erlebbar machen.
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Unser Deutschlandmärchen am Maxim Gorki Theater Berlin | Foto (C) Ute Langkafel MAIFOTO
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Stefan Bock - 9. Juli 2024 ID 14831
UNSER DEUTSCHLANDMÄRCHEN (Maxim Gorki Theater, 06.07.2024)
nach dem Roman von nach Dinçer Güçyeter
Regie: Hakan Savaş Mican
Bühne: Alissa Kolbusch
Kostüme: Sylvia Rieger
Komposition: Peer Neumann
Lichtdesign: Carsten Sander
Dramaturgie: Clara Probst und Holger Kuhla
Livemusik: Bekir Karaoğlan, Peer Neumann, Claire Cross, Cham Saloum und Ceren Bozkurt
Mit: Taner Şahintürk und Sesede Terziyan
Premiere war am 6. Juli 2024.
Weitere Infos siehe auch: https://www.gorki.de
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