Quälend-
düsteres
Horrorkabinett
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Woyzeck am Schauspiel Leipzig Foto (C) Rolf Arnold
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Bewertung:
Georg Büchners Dramenfragment Woyzeck steht wieder häufiger auf den Spielplänen. Auch immer mal wieder neu interpretiert. Als Zettelhaufen bezeichnet es Joseph Vogel, Professor für Germanistik an der Humboldt-Universität, wie es von Regisseur Enrico Lübbe in einem Interview für das Programmheft seiner Inszenierung am Schauspiel Leipzig verlautbart wird. Der Leipziger Intendant hat den Zettelkasten ausgekippt, die Reihenfolge neu sortiert und manches weggelassen. Einige Textpassagen werden dafür wiederholt gesprochen oder auch anderen Figuren in den Mund gelegt.
„Immer zu“ steht an der Wand mit mehreren Türen, die Eitenne Plus auf der Drehbühne platziert hat. Es ist das Mantra eines Abends, an dem der Soldat Franz Woyzeck, der am Ende seine ihm untreue Geliebte Marie ersticht, permanent von allen Figuren kollektiv in den Wahn getrieben wird. Eine mentale und körperliche Überforderung, ein stetiger Druck, dem der einfache Mensch nicht gewachsen ist. Gespielt wird dieser Getriebene vom älteren Schauspieler Christoph Müller. Und auch Bettina Schmidt, die Darstellerin der Marie, ist nicht mehr Mitte Zwanzig. Das öffnet den Blick auf eine allgemeinere Lesart als Problem gesellschaftlicher Ausgrenzung. Woyzeck der ewige Loser und zu spät Gekommene. Das dürfte den ursprünglichen Intentionen Büchners näher sein als so manche moderne Neuinterpretation. Alles ist in Büchners Textfragmenten enthalten, man muss es nur entsprechend visualisieren. Und das ist Lübbe vor allem in ästhetischer Hinsicht auch gelungen.
Zusätzlich getrieben wird die Inszenierung durch das Live-Schlagzeugspiel von Angela Requena Fuentes, die, begleitet von Philip Frischkorn am Klavier, auch zwei Songs singt. Das erinnert an die Inszenierung von Ersan Mondtag am Berliner Ensemble aus dem letzten Jahr, zu der Musiker Tristan Brusch einen ganzen Soundtrack komponierte. Doch was Mondtags männerbündlerisches Waldvolk (auch Marie wurde da von einem Mann gespielt) vermissen ließ, wird hier geradezu überdeutlich. Der permanente Druck auf einen vom Schicksal und den Verhältnissen nicht gerade begünstigten Underdog sucht sein Ventil. Lübbe lässt zu Beginn schon die Mordszene andeuten. Die Umrisse von Woyzeck und Marie schälen sich dabei aus dichtem Bühnennebel. Das Messer ist hier bereits gezückt. Dann erfolgt der auf die Bühnenwand projizierte visuelle Schnelldurchlauf (Video: Robi Voigt) der Geschichte rückwärts bis zum Anfang, bei dem Woyzeck seinen Hauptmann rasieren muss.
Tilo Krügel ist eine mit Orden behängte, untote Hitler-Karikatur. Permanent demütigt er seinen Untergebenen durch hämisches Lachen und hohle Sprüche. Er strahlt selbst die Hektik aus, die er permanent Woyzeck unterstellt. Der Doktor (Michael Pempelforth) dagegen quält seinen Probanden ganz genüsslich und in Ruhe. Auf der Bühne agiert ein ganzer Chor von weiß-gewandeten Seminaristen des Doktors, die den interessanten „Casus“ Woyzeck bei einer Filmvorführung begutachten. Später spielen sie auch das Kneipenvolk. Das weitere Horror-Personal vom bunt uniformierten Tambourmajor (Samuel Sandriesser) über den Kameraden Andres (Wenzel Banneyer) bis zu Maries aufgetakelter Freundin Margret (Paula Winteler) wird von einer hinzu erdachten Figur eines Wanderers ergänzt. Niklas Wetzel (vom DT nach Leipzig gewechselt) spielt einen schwarz-bemäntelten Albtraum auf Plateauschuhen (Kostüme: Bianca Deigner). Das Gesicht ist wie bei einem Clown weiß geschminkt. Mit einem Ballon in der Hand streift er über die Bühne. Grell kreischend und lachend erscheint er Marie im Traum und verkauft am Ende das Messer an Woyzeck.
Dazwischen kreist die Inszenierung immer wieder in kleinen Szenen um das Paar Woyzeck und Marie. Beide suchen für sich das persönliche Glück. Woyzeck scheitert im Kampf um etwas mehr Geld an der Ignoranz der Gesellschaft, die ihm alles Menschliche nimmt. Das hat auch etwas Existentielles. Marie wird zum doppelten Opfer einer männlich dominierten Welt. Das spart die Inszenierung nicht aus. Aber Regisseur Lübbe interessiert sich auch für den realen Fall Woyzeck, der Büchner als Vorlage zu seinem Drama diente. Wie weit trägt die Gesellschaft Mitverantwortung an verübten Gewalttaten? Eine Frage, die Büchner seinerzeit umtrieb und auch heute noch aktuell ist. Dazu kommt die damals beginnende Kriminalpsychologie. Es gab mehrere Gutachten im Fall Woyzeck. Was nicht heißen muss, dass hier mildernde Umstände einer Unzurechnungsfähigkeit die Tat relativieren sollen.
In Lübbes Inszenierung wird das nun zum düsteren Horrorkabinett, das den psychisch in die Enge getriebenen Protagonisten keinen Ausweg mehr bietet. Das erinnert auch zuweilen an Kafka. Etwa wenn Woyzeck nach der richtigen Tür sucht, die Türen sich in Videoprojektionen auf der Wand vervielfachen oder die Bühnenwand sich teilt und der verstörte Woyzeck buchstäblich eingeengt wird. Da hätte es das etwas plakative Ende, bei dem das Ensemble durch aus dem Schnürboden schwallendes Theaterblut zur Rampe kriechen muss, nicht mehr unbedingt gebraucht.
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Woyzeck am Schauspiel Leipzig | Foto (C) Rolf Arnold
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Stefan Bock - 29. April 2024 ID 14721
WOYZECK (Schauspiel Leipzig, 27.04.2024)
Regie: Enrico Lübbe
Bühne: Etienne Pluss
Kostüme: Bianca Deigner
Video: Robi Voigt
Musikalische Konzeption: Philip Frischkorn
Live Musik: Philip Frischkorn und Angela Requena Fuentes
Dramaturgie: Torsten Buß
Licht: Jörn Langkabel
Live-Kamera: Robert Gotthardt
Videotechnik: Fabian Polinski
Ton: Gregory Weis, Nico Teichmann und Udo Schulze
Masken: Kathrin Heine, Donka Donka Holeček, Cordula Kreuter, Julia Markow und Barbara Zepnick
Besetzung:
Christoph Müller (als Woyzeck)
Bettina Schmidt (als Marie)
Tilo Krügel (als Hauptmann)
Michael Pempelforth (als Doktor)
Wenzel Banneyer (als Andres)
Samuel Sandriesser (als Tambourmajor)
Paula Winteler (als Margreth)
Niklas Wetzel (als Wanderer)
Bruno Akkan, Luca-Noél Bock, Aicha-Maria Bracht, Joshua Dahmen, Fritz Manhenke und Emmeline Puntsch (als Seminar des Doktors/ Wirtshausgesellschaft)
Statisterie
Premiere war am 27. April 2024.
Weitere Termine: 04., 15., 29.05. / 11.06.2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-leipzig.de/
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