Raubkunst
und
koloniale
Schuld
|
Der zerbrochene Krug am DT Berlin | Foto (C) Arno Declair
|
Bewertung:
Neue politische Kontexte für in die Jahre gekommene Theaterstücke, das ist der Lauf der Dinge und nicht das Schlechteste, was einem alten Dramentext passieren kann. Anne Lenk ist eine Regisseurin, die sich der Neuinterpretation klassischer Stücke verschrieben hat. Die Aufwertung klassisch weiblicher Rollenbilder liegt ihr am Herzen. Mit ihren Inszenierungen von Molières Komödie Der Menschenfeind und Schillers Drama Maria Stuart am Deutschen Theater hat sie es bis zum Berliner THEATERTREFFEN geschafft. So auch in Heinrich von Kleists Lustspiel Der zerbrochne Krug. Ein Klassiker der deutschen Komödiendichtung, der immer wieder Theaterschaffende zu Neuinterpretationen herausfordert. Die Themen sind patriarchale Machtgefüge im Wandel oder die Beugung der Wahrheit für den eigenen Zweck. Nicht nur politisch gesehen ein aktueller Stoff.
Die Frage ist, was aus diesem alten Krug eigentlich noch Neues herauszuholen wäre, ohne die textliche Struktur gänzlich aufzulösen oder das Stück neu zu schreiben. Die Rolle des Gerichtsrats Walter, der den in eigener Sache verhandelnden Dorfrichter Adam kontrollieren und zurechtweisen soll, mit einer Frau zu besetzen, ist nicht neu. Die koloniale Vergangenheit näher zu beleuchten aber relativ naheliegend. Und so ist der geniale Einfall des Abends, die Geschichte des Krugs, die von der Besitzerin und Klägerin Marthe Rull vor Gericht als die Geschichte der Niederlande vorgetragen wird, als eine von Kulturraub geprägte zu erzählen. Aktueller Fall sind die Beninbronzen, deren Rückgabe an die afrikanischen Besitzerländer gerade in Europa heiß diskutiert wird. Der Krug stammt hier nun aus Namibia vom Volk der Herero, einst durch deutsche Kolonialherren geknechtet und gemordet.
Der Fall des Dorfrichters Adam, der einen fehlgeschlagenen nächtlichen Ausflug, um sexuelle Gelüste zu stillen, als einen Sturz über die eigenen Füße herunterzuspielen versucht, wird mit einem Blick auf andere, globale Verfehlungen jener Zeit kombiniert. Der menschliche Sündenfall, auf den Kleists Stück auch anspielt, ist hier ein Fall von sexueller Gewalt an der jungen Magd Eve, von der Adam für eine Gefälligkeit Liebesdienste erpressen will. Eves Verlobter Ruprecht kann durch forsches Einschreiten Schlimmeres verhindern, trifft den unerkannt Fliehenden mit der Türklinke am Kopf. Aber nicht nur der trägt Schrammen davon. Auch Rulls Krug geht dabei zu Bruch, wofür sich nun Ruprecht vor Gericht verantworten soll. Die, die es besser wissen sollte, schweigt aus Not um ihren Geliebten, der zur Armee und nach Übersee soll. Der zweite Link zum kolonialen Erbe, soll es doch nach Niederländisch-Indonesien gehen. Das Ganze entspinnt sich in Oranje-Farben gehalten Kostümen zwischen 70er-Jahre-Look und Frau-Anje-Chic vor einer bühnenfüllenden Reproduktion eines pompösen Stilllebengemäldes des holländischen Malers Jan Davidsz. de Heem, das wie vor Kurzem in der Potsdamer Ausstellung Rembrandts Orient auch in der Kunst das niederländische Goldene Zeitalter und die aus den Kolonien eingeführte exotischen Waren idealisiert.
Das ist dann allerdings fast schon alles, was aus der Inszenierung erwähnenswert ist. Ulrich Matthes als Dorfrichter Adam und Jeremy Mockridge als sein Schreiber Licht in Warteposition geben sich zu Beginn einen ganz originellen Schlagabtausch. Lorena Handschin spielt die ambitionierte Gerichtsrätin Walter, deren Schwangerenbauch sie als moderne Frau zwischen Familie und Kariere zeigt. Dagegen wirkt der sich windende Täter wie der ewig gestrige Genießer und sich allzu sicher wähnende Machtmensch mit etwas provinziellem Charme. Immerhin sind wir bei Kleist weiterhin auf dem Dorf, und auch die Rull‘sche Sippschaft gibt sich Mühe, diesen Eindruck beizubehalten. Tamer Tahan als polteriger Ruprecht, Franziska Machens als redeschwallende Marthe Rull und Julia Windischbauer als leicht verpeilte Frau Brigitte sind für das Komödiantische zuständig. Bleibt Eve, die hier mit Lisa Hrdina bis zum Ende kaum zu Wort kommt, um dann endlich nach dem Abgang Adams die Wahrheit verkünden zu können. Da ist aber zuvor das meiste schon nett weggelächelt worden. Einen echten Aha-Effekt hat dieser etwas zu konventionell gebaute Abend nicht zu bieten.
|
Der zerbrochene Krug am DT Berlin | Foto (C) Arno Declair
|
Stefan Bock - 21. Dezember 2021 ID 13371
DER ZERBROCHENE KRUG (Deutsches Theater Berlin, 18.12.2021)
Regie: Anne Lenk
Bühne: Judith Oswald
Kostüme: Sibylle Wallum
Musik: Lenny Mockridge
Licht: Cornelia Gloth
Dramaturgie: David Heiligers
Mit: Ulrich Matthes, Jeremy Mockridge, Lorena Handschin, Franziska Machens, Lisa Hrdina, Tamer Tahan und Julia Windischbauer
Premiere war am 18. Dezember 2021.
Weitere Termine: 26., 31.12.2021 // 07., 11., 21., 25.01.2022
Weitere Infos siehe auch: https://www.deutschestheater.de/
Post an Stefan Bock
Freie Szene
Live-Streams
Neue Stücke
Premieren
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
DEBATTEN & PERSONEN
FREIE SZENE
INTERVIEWS
PREMIEREN- KRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
RUHRTRIENNALE
TANZ IM AUGUST
URAUFFÜHRUNGEN
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|