Verjuxt
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Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall - in einer Bühnenfassung für das Deutsche Theater Berlin | Foto (C) Monika Rittershaus
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Bewertung:
Die Theaterregisseurin Karin Henkel hat bereits 2019 zu Thomas Bernhards 30. Todestag einen Abend mit Texten des österreichischen Schriftstellers und Dramatikers am Deutschen Schauspielhaus Hamburg herausgebracht. Ein nationalsozialistisches Gruselkabinett der Übriggebliebenen mit Figuren aus den Stücken Vor dem Ruhestand; Ritter, Dene, Voss und dem Roman Auslöschung. Ein Zerfall. Die österreichische Verstrickung in den Nationalsozialismus, der permanente Antisemitismus seiner Landsleute und der Katholizismus, der sich verheerend in die Erziehung von Genrationen eingeschrieben hat, waren die großen Themen Thomas Bernhards. In sich beständig wiederholenden literarischen Schimpftiraden hat er sich immer wieder daran abgearbeitet.
Nun beschäftigt sich Karin Henkel ein Jahr nach Bernhards 90. Geburtstag wieder mit dessen 1986 erschienenem letzten Roman Auslöschung. Ein Zerfall. Zur Premiere am Deutschen Theater Berlin sind zu diesem Anlass viele deutsche Theaterleute im Publikum versammelt, u.a. der ehemalige Intendant des Burgtheaters und Berliner Ensembles Claus Peymann, der die meisten der Bernhard-Stücke uraufgeführt hat und sich selbst stolz auch als Bernhards Witwe bezeichnet. Er wird es sich nicht nehmen lassen, anlässlich seines 85. Geburtstags Texte von Bernhard im Renaissance-Theater zu lesen. Da treffen zwei Generationen und Traditionen des deutschen Regietheaters aufeinander.
Der Titel des Abends spricht Bände. Wer sich durch die über 500 Seiten Romantext ohne Absatz gefressen hat, weiß, wovon die Rede ist. Um einen gehässigen Joke aus einer Rezension zum neuen Roman von Uwe Tellkamp etwas verkürzt aufzugreifen, wer den Roman bis zum Ende gelesen hat, ist vermutlich Kritiker. Bernhard setzt sich hier in der Figur des mittelalten Privatlehrers Franz-Josef Murau mit seiner Kindheit im elterlichen Schloss Wolfsegg und der nationalsozialistischen Vergangenheit seiner Familie auseinander. Ein Endlosmonolog, der in sich stetig steigernden Schimpftiraden genau die bereits erwähnten Themen abhandelt. Murau lebt seit Jahren in Rom und erzählt im Roman, wie er seinem Schüler Gambetti die ganze Familiengeschichte berichtet. Anlass ist ein Telegramm seiner Schwestern, in dem er vom Unfalltod der Eltern und des Bruders erfährt und zu deren Beerdigung er für zwei Tage ins verhasste Waldegg zurückkehren muss. Die titelgebende Auslöschung ist ein Roman, den der Protagonist über seine Vergangenheit schreiben will.
Der Roman ist eine durchgehende indirekte Rede an diesen seinen Lieblingsschüler, ein ununterbrochener Gedankenfluss in Form einer Suada. Das ist Bernhard‘sche Meisterschaft und dürfte so als Theaterstück recht schwierig aufzuführen sein. Karin Henkel hilft sich, indem sie den Schüler Gambetti, den Bruder und andere Nebenfiguren wie den geliebten Onkel Georg, die Dichterin Maria oder den römischen Freund der Familie Spadolini einfach weglässt. Die Regisseurin vervierfacht dafür die Hauptfigur des Franz Josef Murau den verschiedenen Lebensaltern entsprechend und stellt ihnen die beiden Schwestern, Vater und Mutter direkt gegenüber. So entsteht so etwas wie ein Spielfluss in Dialogen, die es im Roman gar nicht gibt. Der weitschweifige Text ist stark gekürzt. Karin Henkel reichert ihn aber zusätzlich mit Auszügen aus Bernhards Stücken Der Ignorant und der Wahnsinnige; Vor dem Ruhestand; Ritter, Dene, Voss; Am Ziel; Eine Komödie von der deutschen Seele sowie weiteren Prosatexten an. Ein Machup, das die ursprüngliche Erzählform des Romans teilweise aufbricht und so für das Publikum leichter konsumierbar machen soll.
Eine sicher recht aufwendige Textarbeit und Dramaturgie, die dann aber leider nicht gänzlich aufgegangen ist. Schon zu Beginn wanzt sich der Abend ans Publikum, wenn Daniel Zillmann vor dem Eisernen Vorhang erscheint und mitteilt, dass das Fotografieren der Vorstellung verboten sei und dann in Bernhards Ausführungen über die lächerliche Verzerrung der fotografierten Personen zu Kunstwesen verfällt. Ins Wort fällt ihm dann Bernd Moss, der den Abend über den älteren Part des Murau gibt, aber gleich von Statisten unterbrochen wird, die zwei Särge durch den Saal zur Bühne tragen und unter lautem Geplapper durch die Tür des Eisernen Vorhangs zwängen. Wir haben es hier also mehr mit einer Bernhard-Parodie zu tun. Die offene Bühne zeigt dann einen abgestorbenen dunklen Wald. Es gibt viel Nebel und geisterhafte Videoprojektionen. Dazu hebt und senkt sich immer wieder eine überdimensionale Mondscheibe. Vater (Manfred Zapatka) und Mutter (Almut Zilcher) sind in einem kleinen Gartenhaus aufgebahrt, fangen aber gleich an, aus den Särgen heraus zu reden.
Auch das boshafte Schwesternpaar (Anja Schneider und Daniel Zillmann) hüpft in wechselnden Kleidchen puppenhaft über die Bühne und macht ihrem Bruder Vorhaltungen. Das ganze Trauma der katholischen Kindheit Muraus‘ wird als Reigen der Untoten und ewig Gestrigen dargestellt. In Stockbetten liegen die vier Muraus (neben Moss und Zillmann noch Linn Reusse und ein Kinderstatist). Es wird viel vom Bettnässen geredet und anschaulich gezeigt. Die Nazi-Mutter, die alles mit ihrer braunen Soße übergoss, tritt als Schreckgespenst auf und der opportunistische Vater in SA-Uniform. Die Bernhard’sche Kunst der Übertreibungsrede beherrscht noch am besten Bernd Moss. Da hätte man gern mehr gehört. Nach der Pause fährt dann aus der Unterbühne sogar ein ganzer Glaskasten voll Nazis hoch und tanzt Polonaise im Gartenhaus. Geteilt an zwei Tafeln sitzen der jüngere Murau mit den Eltern und der ältere mit den Schwestern. Einmal wird schön schräg Lacrimosa gesungen. Den Mummenschanz beendet eine Gesellschaft Museumsbesucher (Statisterie), die die eingefrorenen Figuren wie aus einer längst vergangen Zeit besichtigen. So wirklich will sich die Regie zu dem auf der Bühne behaupteten aber nicht verhalten. Ein alter doch immer noch aktueller Text als lustige Gruselgeschichte aus der Vergangenheit. Gibt es eigentlich noch so was wie Bernhard-Erben, fragt man sich da. Bleibt nur zu konstatieren, dass Bernhards Witwe zur Pause gegangen ist.
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Auslöschung am DT Berlin | Foto (C) Monika Rittershaus
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Stefan Bock - 5. Juni 2022 ID 13658
AUSLÖSCHUNG. EIN ZERFALL (Deutsches Theater Berlin, 04.06.2022)
nach Thomas Bernhard
Regie: Karin Henkel
Bühne: Thilo Reuther
Kostüme: Teresa Vergho
Musik: Lars Wittershagen
Dramaturgie: Rita Thiele und Juliane Koepp
Mit: Bernd Moss, Linn Reusse, Anja Schneider, Manfred Zapatka, Almut Zilcher und Daniel Zillmann sowie den Kinderstatisten Béla Paul Lorenz Otlewski und August Usermann
Premiere war am 4. Juni 2022.
Weitere Termine: 26.06. / 03.07.2022
Weitere Infos siehe auch: https://www.deutschestheater.de/
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