Karl Roßmann
auf Kafkas
Spuren
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Amerika am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Thomas Aurin
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Bewertung:
Ein bisschen schwachsinnig ist es schon: Nur weil Franz Kafka vor 100 Jahren verstorben ist, überschlagen sich die Feuilletons, die Verlage und eben auch die Theater mit seinen Werken oder deren Bearbeitungen, als wären diese vor einem, zwei, drei Jahren weniger bedeutend gewesen. Man braucht schließlich kein rundes Datum, um sich die Zähne zu putzen oder ein Bier zu trinken. Die Anlass-Terminierung ist so ziemlich die blödeste aller Vorwände, eine Person oder ein Werk zu revitalisieren. Sie kommt jenen entgegen, deren Orientierung über den Taschenkalender nicht hinaus reicht. Es sind dieselben Leute, für die die Welt zusammenbricht, wenn ein Geburtstag nicht genau am zufälligen Tag der Geburt, sondern beispielsweise aus praktischen Gründen am Wochenende (oder gar nicht) gefeiert wird.
Nehmen wir also zur Kenntnis, dass eine Dramatisierung von Kafkas Fragment Der Verschollene, das Max Brod unter dem Titel Amerika veröffentlicht hat, als sinnvoll oder als überflüssig betrachtet werden kann, dass sie aber mit Kafkas Todestag so viel zu tun hat wie die Lust auf Dresdner Stollen mit Weihnachten.
Der gut vernetzte ungarische Regisseur Viktor Bodó, der in den vergangenen Jahren häufig außerhalb seiner Heimat, so auch in Stuttgart, inszeniert hat, geht mit dem Verschollenen, alias Amerika, in einer Weise um, dass man, wenn es nicht ein Roman wäre, denken könnte, es sei ein Theaterstück von Stanisław Ignacy Witkiewicz oder von Fernando Arrabal.
Der pausenlose zweistündige Abend lässt sich mit quälend unkomischer Komik in Zeitlupe an. Auf der Bühne des Schauspiels Stuttgart, vor einem weißen Bogen, der an eine Skisprungschanze erinnert, stehen Schreibtische in geometrischer Anordnung, eine Reminiszenz an die hundertfach plagiierte Verfilmung des Prozeß durch Orson Welles. Danach fängt es erst richtig an. Bodó transportiert die für Kafka kennzeichnende Atmosphäre des Ungewissen, des Mehrdeutigen ins Visuelle. Für groteske Verzerrung sorgen die Kostüme (Dóra Pattantyus) und Vocoder. Bilder werden eingefroren und mit einem Knall wieder in Bewegung versetzt. Kurze Tanz- und Musikmomente unterbrechen den Redefluss.
An einer Stelle sagt Viktor Bodó, garantiert nicht Kafka: „Wir vermischen poetischen Realismus und absurdes Theater in Ermangelung von etwas Besserem.“ Das kann man als Eingeständnis eines Versagens verstehen oder als Kafka-Interpretation aus dem Geist seiner Nachfolger. Und man kann es goutieren oder kritisch betrachten. Das Bessere gibt es ja. Es heißt Der Verschollene oder Amerika und ist ein Roman. Der freilich braucht Leser und füllt keinen Spielplan.
Aus dem Ensemble, dessen Mitglieder meist mehrere Rollen bekleiden, stechen David Müller als die zentrale Figur des teils verschüchterten, teils draufgängerischen Karl Roßmann, die zugleich ein Doppelgänger ihres Autors ist, und Michael Stiller, den man in den vergangenen Jahren allzu selten in einer größeren Rolle gesehen hat, als der autoritäre reiche Onkel Jakob, hervor.
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Amerika am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Thomas Aurin
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Thomas Rothschild – 4. Juni 2024 ID 14782
AMERIKA (Schauspiel Stuttgart, 03.06.2024)
von Franz Kafka
Inszenierung: Viktor Bodó
Bühne: Zita Schnábel
Kostüme: Dóra Pattanyús
Musik: Klaus von Heydenaber
Licht: Jörg Schuchardt
Mediengestaltung: Bors Ujvari
Dramaturgie: Ingoh Brux und Anna Veress
Mit: Therese Dörr, Teresa Annina Korfmacher, Simon Löcker, Reinhard Mahlberg, Marco Massafra, Marietta Meguid, Noah Ahmad Baraa Meskina, David Müller, Peer Oscar Musinowski, Celina Rongen und Michael Stiller
Premiere war am 18. Mai 2024.
Weitere Termine: 09., 16., 27., 29.06./ 07., 16., 18.07.2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-stuttgart.de
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