Goethes Wanderers Nachtlied – mal völlig anders
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Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh am Deutschen Schauspielhaus Hamburg | Foto (C) Eike Walkenhorst
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Bewertung:
Das Deutsche Schauspielhaus Hamburg ist mit zwei Inszenierungen aus dem letzten Jahr zum Berliner Theatertreffen im Mai eingeladen. Anita Vulesica hat sich mit Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh ein äußerst witziges Hör-Sprach-Spiel des französischen Schriftstellers und Dramatiker Georges Perec (1936-1982) zu Goethes Wanderers Nachtlied vorgenommen. Katie Mitchell inszeniert mit Bernarda Albas Haus das bekannteste Theaterstück aus der Trilogie über die Unterdrückung spanischer Frauen auf dem Land vom Lyriker und Dramatiker Federico García Lorca (1898-1936). Unterschiedlicher könnten die Themen nicht sein. Das mag zunächst verblüffen. Aber einen politischen Anspruch - jeder auf seine Art - erfüllen durchaus beide Abende.
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Perecs experimenteller Text Die Maschine entstand 1968 als knapp 40-minütiges Hörspiel für den Saarländischen Rundfunk und simuliert die Arbeitsweise eines damaligen Computers mit Lochkarteneingabe, der Goethes berühmten 8-Zeiler „Über allen Gipfeln/ Ist Ruh…“ analysieren, auseinandernehmen und wieder neu zusammensetzen soll. Dazu gibt es eine Kontrolleinheit, die drei Speichereinheiten immer wieder neue Aufgaben zum Gedicht, dem Dichter und zur Interpretation gibt. Heraus kommt ein zunächst recht präziser Analysestrom, der mit zunehmender Fragedichte aber immer diffuser und anarchischer mit der Sprache umgeht, was einen gewissen Witz entfaltet und als Sprach- wie auch Technikkritik gelten kann sowie Einblicke in die Entstehung von Poesie gibt.
In Zeiten von KI, hier kann man z.B. das immer häufiger genutzte Frage-Tool ChatGPT nennen, ist das natürlich von größter Aktualität. Eine Abhandlung dazu gibt es auch im Programmheft des Abends, der darauf im Verlauf aber leider nicht weiter eingeht. Das kann man schade finden, bekommt dann aber doch einiges an Witz und Sprach-Virtuosität geboten. Auf einer abgestuften Podestkonstruktion vor einer Metallröhrenwand (Bühne: Henrike Engel) sitzen Sandra Gerling als Kontrolleinheit, Moritz Grove, Daniel Hoevels, Christoph Jöde als Speichereinheiten und Camille Jamal als Soundmixer. Vor ihnen auf Tischen stehen rote Buzzer und Schalthebel. Die chaotisch immer wieder auf Anweisung gefalteten Lochstreifenpapiere werfen sie in lange Kunststoffröhren. Anita Vulesica hat ihre hellblau uniformierten Computersimulierer auf Slapstick und Klamotte getrimmt, was in den irrwitzigen Sprech- und Körperverrenkungen beim Publikum auch sehr gut ankommt.
Goethes Naturgedicht, in dem es um unterschiedliche Ruhezustände in der Natur (Gipfel, Wipfel, Vögel) geht, und an dessen Ende schließlich der noch nicht zur Ruhe gekommene Mensch selbst als angesprochenes Du steht („Warte nur, balde/ Ruhest du auch.“), wird von links nach rechts, von oben nach unten und in verschieden Zusammensetzungen neu dargeboten, bis zur Unkenntlichkeit verfremdet, mit Zitaten, deutschen Sprüchen und politischen Statements garniert, was für Heiterkeit sorgt, aber den wirklich anarchischen Ansatz etwas verfehlt. Absurdes Theater mit Goethe/Schiller-Gesangseinlage und einem nach dem Drehen der Bühne auf der Rückseite veranstalteten expressionistischen Ausdruckstanz mit Geweih- und Ast-Kopfbedeckungen. Dazu brennt es hin und wieder auf der Videoleinwand und die höchsten Berge und bedrohten Vogelarten auf der roten Liste werden von A bis Z aufgesagt. Da hat das Ganze dann zumindest noch eine klimakritische Note.
Yorck Dippe gibt den Dichter im Mechaniker-Overall und räsoniert über Entstehung und Bedeutung des Gedichts und über die „Welt als Puzzle“ im Allgemeinen. Dekonstruiert und neu zusammengesetzt am deutsch-großdichterischen Beispiel. Wir erleben es gerade in echt auf eine leider wesentlich weniger poetische Weise. In der Ruhe liegt die Kraft und die Unterbrechung des ganzen Weltwahnsinns, möchte man meinen. Die Stille in allen Landessprachen ist dann auch hier das erklärte Ziel, das zuvor allerdings noch recht schräg und unterhaltsam unterlaufen wird.
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Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh am Deutschen Schauspielhaus Hamburg | Foto (C) Eike Walkenhorst
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Stefan Bock – 11. März 2025 ID 15181
Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh (Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 08.03.2025)
Regie: Anita Vulesica
Bühne: Henrike Engel
Kostüme: Janina Brinkmann
Musik: Camill Jammal
Körperarbeit & Choreographie: Mirjam Klebel
Video: Phillip Hohenwarter
Licht: Susanne Ressin
Dramaturgie: Christian Tschirner
Mit: Yorck Dippe, Sandra Gerling, Moritz Grove, Daniel Hoevels, Christoph Jöde und Camill Jammal
Premiere war am 12. Oktober 2024.
Weiterer Termin: 19.04.2025
Weitere Infos siehe auch: https://schauspielhaus.de/
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