"Mehr Leben!"
Ein Marathon durch die Zeiten
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Plakatmotiv zu Engel in Amerika am Residenztheater München | Künstlerin: Nana Dix / Gestaltung: designwidmer.com
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Bewertung:
„Mehr Leben!“ ruft der aidsinfizierte Prior am Ende der fünfeinhalbstündigen Aufführung. Da hat er überlebt - vorerst, aber seine Berufung abgelehnt, zum Propheten eines Gottes zu werden, der der Welt den Rücken gekehrt hat. Der Engel – Bote des Himmels, spirituelle Herausforderung, Angstgegner, Fantasy-Figur - ist ihm erschienen, als wäre er von Steven Spielberg erfunden. Donnernd und gleißend kracht er durch die Decke des amerikanischen Way of life. Er hat auch eine Botschaft an die Menschheit: sie solle nicht weiter gehen, stehen bleiben, denn ihr trampelnder „Fortschritt“ führe nur zur Zerstörung. Doch Leben ist Bewegung, Bewegung und Schmerz, hat Prior erfahren. Ihn zu teilen, ihm zuzuhören, kann ein Anfang ein, ein erster Schritt, um die drängendsten Probleme unserer Zeit zu lösen.
Den Autor Tony Kushner machte Engel in Amerika schlagartig berühmt. 1985, als er vom Aidstod eines Bekannten erfuhr, hatte er ihn geträumt und schrieb daraufhin ein mehrseitiges Gedicht, das schließlich zu einer großen dramatischen Form anwuchs, eine „schwule Variation über gesellschaftliche Themen“. 24 Protagonisten, gespielt von acht durchweg hervorragenden Schauspieler*innen (Michael Wächter, Pia Händler, Florian Jahr, Nicola Mastroberardino, Barbara Horvath, Benito Bause, Myriam Schröder), verweben die vielen Handlungsfaden zu einem großen Panorama der 1980er Jahre, der Reagan-Ära. Der vielzitierte Schmelztigel Amerika schmilzt und verbindet eben nichts, sondern trennt und verschärft damit die Konflikte der Gesellschaft. Die Folge: Rechtsruck, religiöse Verblendung, zunehmender Raubkapitalismus, Machtmissbrauch, Benachteiligung von Homosexuellen, Diskriminierung von Aidserkrankten.
Die Handlungsebenen gehen auf der offenen Bühne, die wie ein großes städtisches Wohnraumbüro eingerichtet ist (Ralph Myers), ineinander über: ein junges schwules Paar trennt sich, als der eine Aids bekommt und der andere das nicht ertragen kann. Eine Mormonenehe geht auseinander, weil der strenggläubig erzogene Mann seine Homosexualität nicht länger zu unterdrücken vermag. Die Frau flüchtet in Ängste und in die Antarktis vor dem ökologischen Weltuntergang.
Eine der Hauptrollen spielt eine real existierende Person der Zeitgeschichte: Roy Cohn (fulminant Roland Koch), der korrupte frühere Anwalt Donald Trumps, lebt vor, was sein Motto „nett sein oder effektiv“ praktisch bedeutet. Der radikale Republikaner brüstet sogar sich damit, das jüdische Ehepaar Rosenberg auf den elektrischen Stuhl gebracht zu haben. Und er lässt sich von seinem Hausarzt Krebs diagnostizieren, als er an Aids erkrankt, weil er bis zuletzt seine Homosexualität aus geschäftlichen und politischen Gründen verbergen will. Der letzte verbliebene russische Bolschewik, blind und altersschwach, fragt sich, wann uns die Vergangenheit loslassen wird und sehnt sich nach der Sicherheit eines neuen Denksystems.
Mag Aids heute weitgehend unter Kontrolle sein, dieses Werk über die großen Themen des Lebens, über Glaube, Liebe, Hoffnung, Tod und Teufel (bzw. schwarze Engel), wirkt dennoch aktueller denn je. Rechtsnationale Bewegungen erstarken in Europa und Amerika. Was den Schwulen widerfuhr, trifft heute die queere Community. Der Klimawandel schreitet bedrohlich voran. Und was man nicht mehr für möglich gehalten hätte: Gewaltsame Auseinandersetzungen nehmen zu, wieder ist Krieg - in Europa.
Ein Glück, dass diese preisgekrönte Inszenierung (Pulitzer Preis 1993 und Tony Award für das beste Theaterstück) von Simon Stone von 2015 aus Basel nun nach etlichen von Corona bedingten Verschiebungen in München zu sehen war: Stone verzichtet wohltuend auf modische Effekte. Dafür setzt er auf rasante, funkelnde Dialoge, grob und fein, tragisch und bitter, doch mit Witz und Komik. Ein paar Kürzungen allerdings hätten vielleicht nicht geschadet.
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Roland Koch, Nicola Mastroberardino und Michael Wächter in Engel in Amerika am Residenztheater München | Foto (C) Birgit Hupfeld
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Für Fans eines langen Abends und des thematischen Vergleichs, eine Fortschreibung der Geschichte in die Jahre nach 2010: Das Vermächtnis von Matthew Lopez, nominiert für den Nestroy Preis 2022, sogar 6 Stunden lang! Dafür gibt es noch im Januar Termine und Karten.
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Petra Herrmann - 2. Januar 2023 ID 13984
ENGEL IN AMERIKA (Residenztheater München, 30.12.2022)
Inszenierung: Simon Stone
Bühne: Ralph Myers
Kostüme: Mel Page
Musik: Stefan Gregory
Licht: Cornelius Hunziker
Dramaturgie: Almut Wagner
Mit: Roland Koch, Michael Wächter, Pia Händler, Florian Jahr, Nicola Mastroberardino, Barbara Horvath, Benito Bause und Myriam Schröder
Premiere am Theater Basel: 23. Oktober 2015
Münchner Resi-Premiere: 22. September 2022.
Weitere Infos siehe auch: https://www.residenztheater.de/
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