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Repertoire

Sozialer Absturz

ins Bodenlose



Lena Geyer (als Elisabeth) in Glaube Liebe Hoffnung am Theater Bonn | Foto © Matthias Jung

Bewertung:    



Die dunkle Szenerie wirkt trostlos: Durchsichtige Folienwände und durchscheinende Plastiksäcke an fahrbaren Metallketten formen die Bühnenlandschaft. Im Zentrum hinter einer solchen Folienwand steht eine junge Frau im ärmellosen weißen Hemd und kurzer weißer Hose: Elisabeth (Lena Geyer) blickt unschuldig, desillusioniert, verloren. Mit großen, machtvollen Schritten tritt ein sie beobachtender, fülliger Oberinspektor (Bernd Braun) auf. Er nähert sich ihr und droht übergriffig sie anzufassen. Dabei kommentiert er giftig ihr Tun und mögliche Vergehen und registriert jede ihrer Bewegungen. Sie dreht sich weg und möchte den Kontakt beenden. Sie sagt: „Gerne möchte ich jetzt lachen.“ Im Weggehen begriffen, meint der Oberinspektor gönnerhaft abschätzig: „Lach dich ruhig aus.“ Er tritt ab. Elisabeth lacht; es klingt gequält. Langsam scheint es überzugehen in ein lautes, erschöpftes Weinen. Die Lage scheint aussichtslos.

*

Ödön von Horváth (1901-1938) verlieh seinem 1933 erschienenen Drama Glaube Liebe Hoffnung den Untertitel Ein kleiner Totentanz in fünf Bildern. Im Stück scheint die Welt geprägt vom Recht des Stärkeren, fehlender sozialer Gerechtigkeit und Arbeitslosigkeit. Das 1936 in Wien uraufgeführte Werk entstand unter dem Eindruck der Inflation und Wirtschaftskrise. Kleine Fehler werden rücksichtslos bestraft, größere Vergehen übersehen. Das Wertesystem trifft die Schwächsten: Eine junge Frau wird im Stich gelassen, ausgeschlossen und geächtet:

Elisabeth hat alte Schulden und benötigt einen Wandergewerbeschein, um als Vertreterin arbeiten zu können. Deswegen möchte die Arbeitslose schon zu Lebzeiten dem anatomischen Institut ihren Körper überschreiben. Dies lehnt die Oberpräparatorin (Lydia Stäubli) ab, doch ein anderer Präparator (Paul Michael Stiehler) leiht ihr das nötige Geld für den Schein. Auch Frau Prantl (Birte Schrein), der sie zuarbeitet, lieh ihr die Summe für den Schein. Beide finden heraus, dass Elisabeth das Geld für eine Schuldentilgung verwendete. Elisabeth wird Betrug und Täuschung vorgeworfen. Die Gläubiger zeigen sie an, und sie wird weggesperrt. Wieder entlassen lernt sie den Polizisten Schupo (Riccardo Ferreira) kennen, und beide beginnen eine Liaison. Als der Oberinspektor gegenüber Schupo Elisabeths Vergangenheit genüsslich ausbreitet, lässt Schupo Elisabeth fallen.

Regisseurin Julia Hölscher stattet ihre Figuren liebevoll mit Ticks und Spleens aus. So darf Paul Michael Stiehler als Präparator zu Anfang sich selbstvergessen drehen und tanzen. Lydia Stäubli als Oberpräparatorin kränkelt zunehmend erst am Finger, dann an der Hand, bald trägt sie eine Armschlinge und eine Art Verband. Riccardo Ferreira ist als Schupo in weißer Feinripp-Unterhose und mit Lack-Muskelshirt ein echter Hingucker, den neben Elisabeth auch andere Figuren lüstern in Augenschein nehmen. So liebäugelt Birte Schrein als Frau Prantl mit Schupo, die auch sonst mit grotesk aufgetürmten Haaren und unbeholfenem Auftreten sich reichlich in Szene setzt. Nicht minder kurios erscheint Bernd Braun als kontrollierender und wahrhaft widerlicher Oberinspektor. Er genießt sichtlich geifernd Schadenfreude, wenn unglückliche Umstände bei Elisabeth zum Greifen nah scheinen. Lena Geyer in der Rolle der Elisabeth erhält erst ganz am Ende den nötigen Raum, um auf das Geschehen aktiv Einfluss zu nehmen. Hier hat Regisseurin Hölscher in einem alternativen Ende der zentralen Elisabeth einen Verbündeten beiseite gestellt. Der wie Öl nun in ein dunkles, glänzendes Kostüm getauchte Wiedergänger Elisabeths scheint nach dem Freitod freundschaftlich vereint mit der offenherzigen Maria respektive Mario (Sören Wunderlich). Auch diese Figur schlägt sich mehr schlecht als recht durch, hat mitunter Probleme mit dem Gesetz und versucht sich zu arrangieren. Am Ende keimt so ein fader Hoffnungsschimmer der Solidarität auf, wenn beide händchenhaltend offenen Mutes in die Ferne blicken. Gerade in Zeiten der zunehmend voranschreitenden sozialen Spaltung, in der verurteilte Verbrecher auch aufgrund ihres Vermögens Präsident werden, ein sehenswertes Bühnenstück, das jedoch insgesamt etwas vorhersehbar anmutet.



Glaube Liebe Hoffnung am Theater Bonn | Foto © Matthias Jung

n. k. - 5. Dezember 2024
ID 15041
GLAUBE LIEBE HOFFNUNG (Schauspielhaus Bad Godesberg, 30.11.2024)
Regie: Julia Hölscher
Musikalische Leitung: Simon Hastreiter
Bühne: Paul Zoller
Kostüme: Sabrina Bosshard
Komposition: Tobias Vethake
Dramaturgie: Nadja Groß
Besetzung:
Elisabeth ... Lena Geyer
Schupo ... Riccardo Ferreira
Präparator ... Paul Michael Stiehler
Oberpräparatorin ... Lydia Stäubli
Mario ... Sören Wunderlich
Oberinspektor ... Bernd Braun
Frau Prantl ... Birte Schrein
Premiere am Theater Bonn: 8. November 2024
Weitere Termine: 13., 18., 21., 27.12.2024// 09.01.2025


Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de


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