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Repertoire

Brechts

Klassenkampfdrama



Die heilige Johanna der Schlachthöfe, inszeniert von Dušan David Pařízek (am Berliner Ensemble) | Foto (C) Birgit Hupfeld

Bewertung:    



Mit Die heilige Johanna der Schlachthöfe hat das Berliner Ensemble wieder ein Brecht-Stück im Spielplan, das es lohnt sich anzuschauen. Regie führt Dušan David Pařízek, der mit minimalem DarstellerInnen-Aufwand aus dem bekannten Klassenkampf-Drama über das Verhältnis zwischen der idealistischen Heilsarmistin Johanna Dark und dem manipulativen Chicagoer Fleischkönig Pierpont Mauler doch einiges herauszuholen vermag. Der Regisseur setzt dabei auf ein Ensemble von nur vier Schauspielerinnen und einem Schauspieler, wobei die Rollen der Johanna, des Mauler und seines Konkurrenten Cridle festgesetzt sind, während die vielen anderen Figuren des Stücks nur durch zwei Spielerinnen wechselnd dargestellt werden. Das erfordert ein Höchstmaß an Konzentration und auch eine gezielte Straffung der Handlung, was hier in 2 Stunden 15 Minuten auch gut gelingt.

Gelungen ist auch der Besetzungs-Coup mit der extra für diese Inszenierung aus Wien ans BE zurückgekehrten Stefanie Reinsperger als Mauler. Bereits in Ersan Mondtags Baal-Inszenierung hatte sie die männliche Hauptrolle übernommen. Und auch als nun weibliche Fleischkönigin ist sie das Kraftpaket des Abends, und nicht nur, wenn sie sich zum Takt des bekannten Opus-Hits mit den Worten „Fleisch ist Fleisch“ auf den Bauch trommelt. Die Ambivalenz der Brecht’schen Maulerfigur vermag sie in allen ihren Fassetten darzustellen. Als Johanna ist Kathleen Morgeneyer zu sehen. Eine zunächst idealistische Darstellung einer moralisch integren Person, die sich für die hungernden ausgesperrten Arbeiter auf den Schlachthöfen einsetzt. Sie lässt sich mit der Kapitalistin Mauler auf ein undurchsichtiges Spiel ein, bei dem sie in den sogenannten drei Gängen nach unten an ihren hohen Ansprüchen scheitert und sterbend vom siegenden Kapital als Heilige stilisiert wird.

Brecht hat das Stück im Eindruck der Weltwirtschaftskrise 1929/30 geschrieben und 1932 sowie 1937 umgearbeitet. Als Vorlagen dienten ihm neben George Bernard Shaws‘ Stück Die heilige Johanna und Schillers Drama Die Jungfrau von Orleans viele weitere literarische und philosophische Werke von Goethes Faust über Upton Sinclairs Roman The Jungle bis zum Kapital von Karl Marx. Pařízek hat noch zwei weitere wichtige Texte aus den 1930er Jahren gefunden und sie in der Pause, die nicht zwingend genutzt werden muss und auch nicht sollte, gegeneinander geschnitten. Zuerst trägt Stefanie Reinsperger Passagen aus dem Roman Atlas Shrugged (Atlas wirft die Welt ab oder auch Der Streik) von Ayn Rand (1905-1982) vor. Die russisch-US-amerikanische Schriftstellerin beschreibt darin ihre eigene Philosophie des schaffenden Verstandesmenschen, für den der Egoismus die höchste Tugend darstellt und einen Laissez-faire-Kapitalismus propagiert. Die Bibel aller Neoliberalen, die staatliche Einmischung als größtes Hindernis für die frei zirkulierende Wirtschaft betrachten. Trump und Musk dürften momentan als erfolgreiche Umsetzer dieser individualistisch-marktliberalen Strategie gelten.

Dagegen spricht Nina Bruns (im Stück tritt sie als Martha und Frau Luckerniddle auf) einen Text über den Klassenkampf aus Krieg und Gewalt von Simone Weill (1909-1949). Man könnte die heute fast vergessene französiche Sozialrevolutionärin und Autorin nicht nur als Gegenpart von Ayn Rand, sondern in ihrem Wirken auch als eine ebenso gescheiterte Johanna-Dark-Figur verstehen. Weill verzichtete auf das Vermögen ihrer Familie, arbeitete in Elektro- und Autofabriken und nahm am Spanischen Bürgerkrieg teil. Am Ende ihres kurzen Lebens wandte sie sich enttäuscht dem Mystizismus zu. Aus heutiger Sicht sind diese Texte zwei wichtige historische Dokumente. Nur historisch wirkt Brechts Stück aber auch heute nicht, auch wenn er hier den hohen Tragödienton Schillers parodiert. Da setzt Pařízek mit seiner Art der Verfremdungs-Parodie gekonnt an.

Zölle sind wie gerade bei Trump auch ein wichtiges Marktelement in Brechts Stück, das versucht die Wirkungsweise von Angebot und Nachfrage sowie von Kursanstieg und Wertverfall an der Börse zu beleuchten. Die Mauler ist hier eine wichtige Manipulatorin, da sie über Insiderwissen von sogenannten Freunden von der Wall Street verfügt und sie gegen die Konkurrenz der anderen Fleischfabrikanten wie Cridle (Marc Oliver Schulze) und Lennox (Amelie Willberg) einsetzt. Die Treffen zwischen Cridle und Mauler werden auf der von Pařízek gestalteten zweiseitig offenen, schrägen Kastenbühne als diabolische Schattenspiele an die Wände projiziert. Der beim Regisseur übliche Overheadprojektor dient als Lichtquelle, Bild- und Textwerfer. Gleich zu Beginn tanzt die Reinsperger zu schnell wechselnden bedrohlichen Videoprojektionen den entfesselten Kapitalismus.

Neben dem Schauwert wird aber auch das Stück in seinen wichtigsten Stationen abgespult. Johanna lässt sich hier von Mauler persönlich die Schlechtigkeit der Arbeiter in den Schlachthöfen zeigen. Auftritt Frau Luckerniddle (Nina Bruns), die anstatt weiter nach dem Schicksal ihres verunglückten Manns zu fragen, lieber das Freiessen in der Kantine will. Die Arbeiter agieren hier nie als Kollektiv, sondern immer als Einzelwesen. Reinsperger spielt den scheinheiligen Verführer und wickelt die bei den Schwarzen Strohhüten verstoßene Johanna wie ein Kind in ihr weit ausladendes rotes Gewand (Kostüme: Kamila Polívková). Auch eine Form von vergeblicher Liebesgeschichte. Sehr deutlich kommt auch die Verquickung von Schwarzen Strohhüten (Amelie Willberg als Major Paula Snyder und Nina Bruns als Martha) und Fleischfabrikanten als Geldgeber zum Ausdruck. Nächstenliebe als Service am Kunden. Hier wird auch mal zur Gitarre gegriffen und Money-making is a wonderful thing gesungen. Dagegen steht provokant Das Kapital lässt euch die Wahl. Das Dilemma vom gewaltfreien Kampf lässt sich natürlich auch hier nicht lösen. Johanna ist mit ihrer Moralpredig nicht weit gekommen. Am Ende steht das triumphierende Monopol an der Rampe und Johannas späte Einsicht: „Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind.“



Die heilige Johanna der Schlachthöfe, inszeniert von Dušan David Pařízek (am Berliner Ensemble) | Foto (C) Birgit Hupfeld

Stefan Bock – 18. März 2025
ID 15192
DIE HEILIGE JOHANNA DER SCHLACHTHÖFE (Berliner Ensemble, 15.03.2025)
Regie/ Bühne: Dušan David Pařízek
Kostüme: Kamila Polívková
Musik: Peter Fasching
Licht: Hans Fründt
Dramaturgie: Karolin Trachte
Besetzung:
Kathleen Morgeneyer (als Johanna Dark)
Stefanie Reinsperger (als Mauler)
Marc Oliver Schulze (als Cridle)
Amelie Willberg (als Lennox, Gloomb, Paula Snyder und Zeitungsleute)
Nina Bruns (als Frau Luckerniddle und Martha)
Premiere war am 27. Februar 2025.
Weitere Termine: 21., 22.03./ 22., 23.04. 03., 04.05.2025

Weitere Infos siehe auch: https://www.berliner-ensemble.de


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