Brechts Volksstück
als tragisch-
melancholische
Komödie in
Krisenzeiten
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Herr Puntila und sein Knecht Matti am Deutschen Schauspielhaus Hamburg | Foto (C) Kathrin Ribbe
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Bewertung:
Die Rolle eines „dicken Kloben, stinkbesoffenen“ scheint Joachim Meyerhoff wie auf den Leib geschrieben. Er kann lallen, lustvoll pöbeln, Fontänen spucken und mit Schnapsgläsern jonglieren. Gegeben wird Bertolt Brechts Stück Herr Puntila und sein Knecht Matti, das zum Spielzeitbeginn im September am Deutschen Schauspielhaus Hamburg Premiere feierte. Das Hamburger Publikum liebt Meyerhoff noch immer. Als betrunkener Herr auf Gut Puntila ist er ein Charmebolzen, der sich mit dem Gesinde verbrüdert, „sternhagelnüchtern“ aber ein unausstehlicher Leuteschinder. So hat ihn Brecht als Vertreter seiner Klasse gezeichnet und ihm mit dem Knecht Matti einen stoisch geduldigen aber auch stets misstrauischen Partner an die Seite gestellt. Den spielt hier Kristoph Van Boven, von Statur wesentlich kleiner als der schlaksige Meyerhoff, mal abwartend auf Distanz gegenüber dem nüchternen, mal ungeduldig, wenn Puntila im Rausch zu schwelgen beginnt. Er ist der Ruhepol einer Inszenierung, die Meyerhoffs berserkerndem Puntila viel Raum gibt.
Brecht ist 1940 auf seiner Flucht aus Nazi-Deutschland in Finnland angekommen. Dort sitzt er auf dem Landgut der estnisch-finnischen Schriftstellerin Hella Wuolijoki, deren Volksstück Sägespäneprinzessin er zum Puntila umarbeitet, und verfolgt im Radio und den Zeitungen die „schlacht um england“ (Arbeitsjournal). Nicht nur das Programmheft zeichnet die Entstehungsgeschichte des Puntila mit, auch Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier lässt im Hintergrund immer wieder ein Radio mitlaufen, aus dem die Stimme Adolf Hitlers dringt und nicht nur deutsche Heilschöre zu vernehmen sind. Auch in Finnland blieb bedingt durch den verlorenen Winterkrieg gegen die einmarschierte Sowjetarmee und die ausbleibende Hilfe der Westalliierten nur ein Bündnis mit Nazi-Deutschland. Man stand kurz vor dem Fortsetzungskrieg gegen die Sowjetunion, den die finnische Regierung als „antibolschewistischen Kreuzzug“ propagierte. Finnland aufgerieben zwischen zwei Supermächten, die zuvor Europa unter sich aufgeteilt hatten.
Schon 1917 gab es infolge der Oktoberrevolution in Russland auch einen Bürgerkrieg in Finnland, bei dem nationalbürgerliche Schutzkorps gegen rote Arbeitergarden kämpften. Mit Hilfe deutscher Truppen wurden die Roten Garden blutig geschlagen und viele Gefangene kamen in Lagern um. Auch auf der Bühne von Johannes Schütz sieht es wie nach einer Schlacht aus. Zerbröseltes Pappmache, umgestürzte Tische und ein Hausskelet kreiseln auf der Drehbühne. Im Hintergrund steht ein alter Campingwagen, in dem eine Zwei-Mann-Band (Vlatko Kučan, Jakob Neubauer) atmosphärisch schön und sehr melancholisch die Musik von Paul Dessau und Jörg Gollasch spielt. Düstere Landschaftsvideos flimmern im Hintergrund (Severin Renke). Von einer schönen Gegend keine Spur. Der Hass auf die Roten, hier verkörpert vom „rote Surkkala“ (Jan-Peter Kampwirth), ist allgegenwärtig beim Probst (Josef Ostendorf) und Puntilas Saufkumpan, dem Richter Fredrik (Michael Wittenborn). Und auch wenn Karin Beier viel Slapstick und Parodie spielen lässt, hat die Inszenierung immer auch einen eher tragikomischen Unterton.
Schon die Ankündigung von Jan-Peter Kampwirth in Brechts Vorwort: „Drum haben wir ein komisches Spiel gemacht.“ kann man so nicht ganz ernst nehmen. Und auch die Regieidee, die Frauen, die Puntila sich im Suff anverlobt, von Jan-Peter Kampwirth, Josef Ostendorf, Maximilian Scheidt und Michael Wittenborn travestieren zu lassen, hat nicht nur komische Momente. Wie schon Sascha Nathan im Berliner Puntila aus dem letzten Jahr kumpelt sich Meyerhoff in der Gesindemarkt-Szene ans Publikum ran. Dass Lilith Stangenberg als Puntilas Tochter Eva, die von ihrem Vater samt Wald-Mitgift an den mittellosen Attaché und weichlichen Pappkameraden (Jan-Peter Kampwirth) verhökert werden soll, hat es da doppelt schwer, erwehrt sich aber tapfer der chargierenden Männerriege und der erniedrigenden Examinierung zur Chauffeursfrau durch Matti.
Nach der Pause des über drei Stunden langen Abends muss sich Joachim Meyerhoff noch tapfer durch das feuchtfröhliche Verlobungsfest bis zur Besteigung des Hatelmabergs lallen, was ein paar Längen aufweist. Scheinbar unmöglich ist auch hier die Überwindung der Kluft zwischen Herrn und Knecht, der sich resignierend oder auch gelangweilt aus dem Staub macht. Insgesamt wird man trotz allem aber ganz gut unterhalten. Ob sich das jubelnde Publikum ihre Bezüge zur Gegenwart zieht („die Zeit ist trist / Klug, wer besorgt, und dumm, wer sorglos ist!“) darf allerdings bezweifelt werden.
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Herr Puntila und sein Knecht Matti am Deutschen Schauspielhaus Hamburg | Foto (C) Kathrin Ribbe
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Stefan Bock - 4. Dezember 2024 ID 15040
HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTI (Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 01.12.2024)
Regie: Karin Beier
Bühne: Johannes Schütz
Kostüm: Wicke Naujoks
Musik: Jörg Gollasch
Live-Musik: Vlatko Kučan und Jakob Neubauer
Choreografische Mitarbeit: Valenti Rocamora i Tora
Video: Severin Renke
Licht: Annette ter Meulen
Dramaturgie: Judith Gerstenberg
Mit: Jan-Peter Kampwirth, Joachim Meyerhoff, Josef Ostendorf, Maximilian Scheidt, Lilith Stangenberg, Kristof Van Boven und Michael Wittenborn
Premiere war am 22. September 2024.
Weitere Termine: 21.12.2024 / 11., 12., 25.01.2025
Weitere Infos siehe auch: https://schauspielhaus.de/
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