Barfuß
und mit
Spitzenschuhen
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Bliss mit dem Stuttgarter Ballett | (C) Stuttgarter Ballett
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Bewertung:
Der jüngste Abend des Stuttgarter Balletts trägt den Titel PURE BLISS und besteht aus drei Choreographien des in aller Welt, unter anderem lange am Nederlands Dans Theater tätigen Schweden Johan Inger. Das mittlere Stück Out Of Breath wurde bereits 2002 am NDT ur- und 2019 in Stuttgart erstaufgeführt. Damals haben wir berichtet:
„Der Schwede nützt Musik des Niederländers Jacob Ter Veldhuis und des Ungarn Félix Lajkó. Lajkós Komposition wiederum, die stark an Philip Glass erinnert, stützt sich vornehmlich auf die Solovioline (...). Die drei Tänzerinnen, die aussehen wie Puppen, und die drei Tänzer, zwei davon in Röcken, bewegen sich mehr gegen den als mit dem Rhythmus der Musik um eine schräg ansteigende abgerundete Rampe in der Mitte der Bühne. Die Körper wirken eher gebrechlich, schwankend, grotesk als grazil. Das ist meilenweit entfernt vom Schönheitsideal des klassischen Balletts.“
Vorangestellt ist der Wiederaufnahme die deutsche Erstaufführung von Bliss aus dem Jahr 2016, für den Kritiker das hinreißendste, poetischste Ballett des Abends. Zur Musik von Keith Jarretts Köln Concert toben die sechzehn Tänzerinnen und Tänzer in Alltagskleidung, größtenteils ohne Körperkontakt, über die leere Bühne wie Kinder auf einem Spielplatz. Aus dem anarchischen Gegeneinander ergibt sich allmählich eine Ordnung. Das ist Tanz in seiner reinsten, von keiner Story belasteten Form, von einer abstrakten Schönheit, die jener von Jarretts Improvisationen gleicht.
Mit dem dritten und längsten Ballett des Programms, Tschaikowskys komprimiertem Dornröschen, das hier Aurora’s Nap heißt (also nix mit hundertjährigem Schlaf, nur ein Nickerchen), scheint Johan Inger belegen zu wollen, wie breit sein Spektrum und wie wenig er stilistisch festgelegt ist. Als Handlungsballett mit Spitzentanz und allem, was dazu gehört, mit Pirouetten, Sprüngen und Hebungen entgeht es nur durch Humor der Gnadenlosigkeit, mit der man Ähnliches im Sprechtheater veraltet oder verstaubt nennen würde. Inger scheut sich nicht vor der Nähe zum Kitsch, und weil Perraults Märchen von der schlafenden Schönheit ja nun wirklich nicht zu den spannendsten Stoffen zählt, dürfen gemäß dem Libretto von Iwan Alexandrowitsch Wsewoloschski auch der gestiefelte Kater, Rotkäppchen, ein blauer Vogel und noch ein paar Märchenfiguren auftreten. Die vier Prinzen aus Ost, Nord, Süd und West werden bei Inger zu Prinzen aus Russland, Spanien, Frankreich und Deutschland konkretisiert, was die Geographie zwar durcheinanderwirbelt, dem Kostümbildner aber die Befolgung von Klischees erleichtert. Die Türme von Dornröschens nicht sonderlich attraktivem Schloss schlafen mit ihr ein und dürfen sich, wenn es wach geküsst wird, aufrichten. Ein Schelm, wer Obszönes dabei denkt.
Die Gesellschaft, aus der sich Dornröschens Retter, der Prinz Desiré, herausschält, bricht barfuß aus der Moderne herein. Und weil der schwarz gekleidete Prinz in Wahrheit Friedemann Vogel ist, dem man in Stuttgart alles verzeiht, sogar einen Auftritt per Elektro-Tretroller, geht alles gut aus. Märchenhaft. Ironie oder Bilderbuchästhetik? Parodie oder doch eher Koketterie mit einem Publikum, das vor Cranko mit klassischem Ballett gefüttert wurde? Wie es auch gemeint sein mag: Bliss ist die nicht zu verachtende Alternative. „Bliss“ heißt auf deutsch „Glückseligkeit“.
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Aurora´s Nap mit dem Stuttgarter Ballett | (C) Stuttgarter Ballett
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Thomas Rothschild – 28. Februar 2022 ID 13489
https://www.stuttgarter-ballett.de/spielplan/a-z/pure-bliss/
Post an Dr. Thomas Rothschild
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