Auf dem Laufsteg des gesellschaftlichen Parketts
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Jens Koch, Daria von Löwenich und Caner Sunar in Pygmalion am DT Berlin | Foto © Jasmin Schuller
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Bewertung:
Von Anfang an ist klar: Alle möchten sie Eliza sein, niemand möchte den gefühlskalten Sprachforscher Professor Henry Higgins mimen. Alle fünf jungen Darsteller*innen präsentieren so auf ihren T-Shirts einen anderen Buchstaben aus dem Vornamen „E-L-I-Z-A“. Eliza Doolittle ist der Star des Abends. Sie ist es, die in der gesellschaftlichen Hierarchie wegen fehlender Bildung, Schlagfertigkeit und Eloquenz und fehlenden finanziellen Mitteln ganz unten in der Hierarchie steht. Sie dient dem jungen Ensemble als Identifikationsfigur - wegen ihrer Eigeninitiative, ihrem sicheren moralischen Instinkt, ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung.
Improvisiert übt das Quintett zu Beginn die Theateransage, dass die Zuschauer in den Kammerspielen des DT ihre Handys ausschalten mögen. Bei jeder oder jedem haben die anderen etwas auszusetzen. Es geht dabei nicht um inhaltliche Fehler; so wird etwa nicht moniert, dass der erwähnte Kurznachrichtendienst Twitter heute X heißt. Nein, die Aussprache oder der Jargon der Sprechenden sei nicht treffsicher, könnte akzentfreier oder gar stärker akzentbehaftet sein. Die Darsteller überbieten sich bald in Dialekten oder schließlich im rauen, ordinären und vulgären Straßenjargon. So kommt das Quintett der anfangs mittellosen, görenhaft auftretenden Blumenverkäuferin näher, welcher der Legende nach ein sozialer Aufstieg in eine gehobenere Klasse gelingt.
Bastian Kraft übernimmt in seiner Inszenierung von George Bernhard Shaws Pygmalion von Anfang an nicht die historische Situierung um 1912. Kraft und sein Ensemble überarbeiteten Shaws Vorlage, die ihrerseits von einer griechischen Legende Ovids inspiriert ist. Die Handlungsorte – eine Straßenfront, eine schäbige Kneipe und Higgins Heim – werden einzig durch einen Laufsteg markiert. Das Darstellerquintett agiert zu knalliger Pop-Untermalung mit selbstbewussten Auf- und Abgängen in eleganten Kostümen und hochhackigen Schuhen. Szenenwechsel und Aktübergänge bebildern so eine Art Ballroom-Kultur.
Die Aufführung verweist hier auf die Transgender-Ballroom-Szene, eine Drag- und Tanz-Subkultur, die im Harlem der 70er und 80er Jahre in einer überwiegend schwarzen LGBTQ-Community entstand. Auf der Bühne vollführen die Darstellerinnen und Darsteller dezent elegante Moves, agieren theatralisch affektiert, stolz, kraftvoll und geschmeidig (Coaching / Choreografie: Angélique Mimi vom Iconic House of Prodigy).
Alle Akteure – auch die beiden Herren – sind geschminkt und tragen von Anfang an bodenlange Kleider und später knallig bunte Ballröcke. Die stets von Frauen verkörperten männlichen Figuren tragen darüber hinaus künstlichen Bartwuchs. Männlichkeitsgehabe oder Ritterlichkeit scheinen entbehrlich oder beliebig. Als männliche Begleitungen dienen bei Bällen und Festivitäten einzig Herrenanzüge in fahrbaren Gestellen.
Der selbstherrliche Sprachwissenschaftler Higgins (Julia Gräfner) möchte aus einem görenhaft auftretenden Blumenmädchen (Daria von Löwenich u.a.) eine kultivierte Dame der gehobenen Gesellschaft machen, um eine Wette mit dem Linguisten Colonel Pickering (Mercy Dorcas Otieno) zu gewinnen. Haushälterin Mrs Pearce (Jens Koch) erinnert Higgins wohlmeinend an eigene Unkultiviertheiten, die beim Lehren Elizas nicht unbedingt dienlich sein könnten. Der seine Hausangestellte abwehrende Zyniker und Philologe Higgins rechnete nicht damit, dass er sich an seine anfangs noch nervende, jedoch lernfähige Schülerin Eliza Doolittle gewöhnen, sie gar liebgewinnen könnte. Higgins traktiert Eliza mit historischen phonetischen Methoden aus der Zeit des englischen Spät-Viktorianismus. Bald umringen die gehobenen Gäste auf den Teegesellschaften von Higgins feiner Mutter (Caner Sunar) Eliza mit neugieriger Anerkennung. Sie hängen an ihren Lippen, besonders wenn Eliza Unkonventionelles zu erzählen weiß.
Die Akteure agieren voller lustvoller Übertreibungen. Gräfner verkörpert gekonnt Higgins Egozentrik, seinen Snobismus und seine Blasiertheit, wenn sie phonetische Laute anhand von Atmungen von Hunden verschiedener Größen imitiert. Alle anderen mimen nacheinander die selbstsicherer und stolzer werdende Eliza, die bald jedoch die Grenzen ihrer neugewonnenen Freiheit im privilegierten Hause von Higgins nach dem Ende des Experiments erkennt.
Letztlich geht es in der Inszenierung darum, gesellschaftliche Normen-Determinierungen oder Limitierungen durch eigene Selbstentfaltung und Wertschätzung zu begegnen. Es geht um Scham, Klasse und einen möglichen Aufstieg, der stets auch wiederum mit einem Abstieg verbunden sein kann. Die Darsteller glänzen nicht nur durch choreographische Momente, sondern melden sich auch mit Selbstreflexionen zu Wort. Dabei treten sie kurzzeitig aus ihren Rollen, um eigene Reifungsprozesse zu enthüllen. Sie erzählen von der eigenen Migration oder einem früher fehlenden Gefühl dafür, attraktiv zu sein. Insgesamt eine liebevoll und persönlich gestaltete Aufführung, die farbenfroh und mit Verve Mechanismen von Sexismus und Klassismus vorführt und unterhöhlt.
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Pygmalion am DT Berlin | Foto © Jasmin Schuller
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Ansgar Skoda - 29. Mai 2024 ID 14772
PYGMALION (Kammerspiele, 27.05.2024)
Regie: Bastian Kraft
Bühne: Peter Baur
Kostüme: Inga Timm
Musik: Björn SC Deigner
Video: Jonas Link
Coaching / Choreografie: Angélique Mimi (Iconic House of Prodigy)
Licht: Thomas Langguth
Dramaturgie: Christopher-Fares Köhler
Mit: Julia Gräfner, Jens Koch, Daria von Löwenich, Mercy Dorcas Otieno und Caner Sunar
Premiere am Deutschen Theater Berlin: 27. April 2024
Weitere Termine: 01., 17., 22., 29.06./ 05., 13.07.2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.deutschestheater.de
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