Vor dem
Ruhestand
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Oliver Kraushaar (als Theseus) und Constanze Becker (als Phädra) am BE | Foto (C) JR Berliner Ensemble
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Bewertung:
An drei diverse Phädren, die ich in den letzten 20 Jahren sah und hörte, kann und will ich mich sehr gern erinnern: an Corinna Harfouch & Lars Eidinger, die vor knapp zwei Jahrzehnten als ungleiches Mutter-Stiefsohn-Paar im Sarah Kane-Stück (Phaidras Liebe) in der Schaubühne brillierten; an die letzte Henze-Oper (Phaedra), deren Uraufführung ich 2007 in Berlin beiwohnte; und - erst jüngst - an Benny Claesens, der als völlig durchgeknallte Kölner Phädra in der irrsinnstollen Legobaustein-Inszenierung Ersan Mondtags abräumte.
Gestern war ich gespannt auf eine weitere und neue Sicht der Dinge: Phädra, in Flammen von Nino Haratischwili:
"Etwas ist faul am herrschenden Stillstand in Athen. König Theseus ist alt geworden und hält routiniert an seiner Macht fest; seine Gattin Phädra in den Wechseljahren – brennt vor Sehnsucht, das zu lang getragene Regel-Korsett des Königspalastes abzustreifen und endlich ihre eigenen Bedürfnisse zu leben. Demophon, der Erstgeborene, steht schon als Thronfolger bereit, er muss nur noch verheiratet werden. Doch die vom Vater auserwählte Braut Persea sorgt für Unruhe im Palast, denn Persea und Phädra verlieben sich ineinander. Ein Skandal, der laut dem Hohepriester Menschenopfer fordert. Die Notwendigkeit der Veränderung steht der Gewalt der Tradition gegenüber und die bestehende Ordnung gerät ins Wanken – politisch wie privat." (Quelle: berliner-ensemble.de)
Die Autorin wollte überdies, so wie es heißt, mit ihrem Stück "parabelhaft Fragen nach Machtpolitik, Emanzipation und politischer Regression" aufzeigen.
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Was der Haratischwili perfekt gelang, ist, dass ihr sich gut anhörender Text zuvörderst aufs Private, sprich die binnenkriegerischen Ur- und Abgründe einer im Untergang befindlichen Familie abhebt, bis am Schluss halt nichts mehr so wie vorher war. Aber auch vorher war dann (logisch:) alles irgendwie im Argen:
Die Hauptfigur, um die es geht, leidet und laboriert an ihrem nicht nur physisch sich bemerkbar machenden und sie daher auch nicht nur körperlich verunsichernden, demoralisierenden und selbstzerstörerischen Älterwerden. Nicht allein damit, dass sie den langweiligen Gatten immer mehr zum Kotzen findet, kann sie auch mit ihren beiden leibhaftigen Söhnen (der eine ist als unscheinbarer Thronfolger geplant, der andere soll wegen seiner kindischen Verweichlichung soldatische Erhärtungen erfahren) nicht viel anfangen. Noch schlimmer für sie freilich - und das ist die absolute Neuidee des Haratischwili'schen Phädrastücks - ist die "familienpolitisch" erzwungene Kontaktaufnahme mit der designierten Schwiegertochter, die dem Erstgeborenen der Phädra angedeiht sein soll; jene versucht sie lesbisch einzufangen, und die alte aber immer noch hochsexuell gespannte Phädra lässt sich justament auf die Verführung ein. Nachdem das alles rauskommt, wird der Sündenfall vom Oberkleriker des Stadtstaats eingefangen und die Sündige (nichrt etwa Phädra, nein, sondern Persea, die dann eigentlich, auch wegen ihres Lesbenseins, auf Demophon null Bock hatte) als Blutopfer, an dem sich wilde Hunde fies zu schaffen machten, zweckbestimmt.
All das [s.o.] wird von den im Stück Agierenden elektrisierend vorgeführt und durchgespielt - allen voran natürlich die zwei emotional wie körperlich sich gegenseitig nichts schenkenden Frauen Constanze Becker sowie Lili Epply!!
Großes Text- und Schauspielerereignis.
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Paul Herwig (als Panopeus, der Oberkleriker Athens) und Maximilian Diehle (als Demophon, Phädras Erstgeborener) | Foto (C) JR Berliner Ensemble
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Andre Sokolowski - 29. Juni 2023 ID 14271
PHÄDRA, IN FLAMMEN (Neues Haus, 28.06.2023)
von Nino Haratischwili
Regie: Nanouk Leopold
Bühne: Elsje de Bruijn
Kostüme: Wojciech Dziedzic
Musik: Donato Wharton
Video: Daan Emmen
Licht: Rainer Casper
Dramaturgie: Amely Joana Haag
Mit: Constanze Becker (als Phädra), Lili Epply (als Persea), Paul Zichner (als Acamas), Maximilian Diehle (als Demophon), Paul Herwig (als Panopeus) und Oliver Kraushaar (als Theseus)
UA bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen: 25. Mai 2023
Berliner Premiere: 2. Juni 2023
Weitere Termine: 07., 08.10.2023
Eine Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen
Weitere Infos siehe auch: https://www.berliner-ensemble.de
https://www.andre-sokolowski.de
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