Motten
und
Cupidos
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Uraufführung am Staatsballett Berlin: Stars Like Moths von Sol León - mit Polina Semionova und Alexei Orlenco | Foto: Carlos Quezada
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Bewertung:
Das war wieder so ein Abend für die Assoziationsgehärteten. Zwei bilderstarke und in ihren jeweiligen Choreografien einzigartige Performances, welche der tänzerischen Wucht und konzeptionellen Vielseitigkeit des STAATSBALLETTS BERLIN zu neuerlichen Ehren gereichten; dementsprechend fiel dann auch der zweimalige Jubel der Premierengäste in der Staatsoper Unter den Linden unzweideutig und unmissverständlich aus.
"Assoziationsgehärtet" deshalb, weil - zur Deutung und Verständlichkeit des jeweils Dargebotenen - freundlichste Fantasiebereitschaft des Betrachters absolut von Nöten waren, insbesondere beim Erstgeschehenen des Abends: Stars Like Moths ["Sterne mögen Motten" oder so] von Sol Léon, die sich außerdem noch als Verantwortliche für die Bühne, die Kostüme und die Videokonzeption ausweisen ließ.
"Sol León hat mit ihrem Partner Paul Lightfoot seit über 30 Jahren ein reiches Repertoire aussagekräftiger Stücke erarbeitet, die, so unterschiedlich sie sind, als starke und innovative Stimme im Tanzgeschehen der Gegenwart gelten. Kraftvoll und zart, humorvoll und poetisch, intellektuell und theatralisch, hat ihre Bewegungsästhetik ihre emotionalen Wurzeln in dieser Partnerschaft. Ihr unverkennbarer Stil ist ein Markenzeichen dieser gemeinsamen künstlerischen Reise. Als Hauschoreographin war Sol León dem Nederlands Dans Theater seit 2002 verbunden, als Künstlerische Beraterin des Ensembles wirkte sie anschließend von 2012 bis 2020. Seit kurzem tritt Sol Léon auch allein als Choreographin in Erscheinung." (Quelle: staatsballett-berlin.de)
Es begann mit einem irgendwie herausfordernden Solo-Auftritt der inzwischen 39-jährigen Polina Semionowa - wir erinnern uns sehr gern daran, dass Vladimir Malakhov, der Gründungsintendant des Staatsballetts Berlin, die damals erst 18-jährige als Erste Solotänzerin aus Moskau nach Berlin geholt hatte und wir mit ihr betörend schöne Aufführungen sahen - , als sie (während noch im Saal das Licht brannte und die obligatorische Handy-Aus-Durchsage abgeleiert wurde) von links unter der Proszeniumsloge weit nach vorn zur Mitte und in den/ aus den halboffenen Orchestergraben drei Stufen treppauf nach etwas weiter oben schritt, sich dorthin setzte und zwei hochhackige Pumps über die Füße zog, die Beine übereinanderschlug und zu uns Saalgemeinde blickte wie als wollte sie uns fragen "und? was sucht ihr hier, was suchtet ihr an mir" o.s.ä.
Und justament erhob sich Matthew Knight aus dem halboffenen Orchestergraben, stellte sich rechts neben sie, die sich nunmehr vom Sitzen in den Stand erhob, reichte ihr eine Kostprobe von einem saftigen Melonenstück; sie fraß ihm aus der Hand, er stopfte sich den Rest in hastigster Gefräßigkeit in seinen Schlund, ja und so wiederholte sich das paarmal, bis dieser Eröffnungsgag an sich erschöpft zu sein schien.
Dann traten nach und nach neun weitere Akteure auf, und viel Musik (zumeist barocken Grades, wenn auch meistens ziemlich kitschig nachempfunden oder aufpoliert) war hörbar, ja und plötzlich hob der schwarze Vorhang hinten, und die Bühne war mit einem stilisierten zweistöckigen Haus (unten das Probezimmer mit Ballettstange und überdimensionaler Tür, oben die Außenfassade mit zwei Fensterchen) bebaut. Inmitten dieses surrealistisch anmutenden Raumes - hinzu kamen noch ebenso verwirrspielende Videoanimationen von Ennya Larmit - gab es wie auch immer zu verstehende zwischenmenschliche Begegnungen von Paaren und/ oder in der Gruppe; auch vernahm man störende oder verstörende Baustellengeräusche hinterm Rücken... und je weiter das so ging, umso bedeutungs- und auch aussageloser kam einem zuletzt das Alles vor.
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Ganz anders - und obgleich sie noch abstrakter als das vor der Pause zu Besichtigende ausgerichtet waren - wirkten die 2 Chapters Love ["2 Kapitel Liebe" oder so] von Sharon Eyal, deren Half Life, das sie 2018 mit dem Staatsballett hier uraufführte, vor paar Wochen wiederaufgenommen wurde.
Die Freude und die Lust zum Dechiffrieren war dann diesmal allerdings (und insbesondere für mich!) ungleich präsenter als in Anbetracht des Vorherigen.
Zunächst war Danielle Muir zu sehen, wie sie ihren in einem fleischfarbenen Ganzkörpertrikot steckenden Leib auf das Athletischste zu strecken und zu recken wusste - es sah aus, als würde sie dem Breker als Modell für eine seiner Sportsfraustatuen vor dem Olympiastadion gestanden haben; auch in einem Film der Riefenstahl hätte ihr derart demonstriertes körperliches Ideal als Übermenschen-Vorzeige gedient haben können; vielleicht, wie gesagt, aber vielleicht auch wieder nicht.
Dann waren plötzlich noch paar weitere Akteure, und in ähnlich perfektionierten Leibesvorstellungen, zu bemerken und -
- - und das war dann der unerwartete, spektakuläre Kipp- und Wendepunkt in diesem Akt der körperlichen Selbstbespiegelung:
Eine mit brustgeschwelltem Selbstbewusstsein auftretende Gruppe von zirka zwei Dutzend dienstausübenden Cupidos (diese Annahme wurde durch einige der Köcher für die Liebespfeile, welche sich einige der Akteure auf ihre Rücken geschnallt hatten, begründet und bestärkt) fing jene sich solistisch bemerkbar gemacht Habenden [siehe oben à la "waren plötzlich noch paar weitere Akteure"] sofort ein, integrierte sie in sich und bewegte sich im flotten Marschgang immer wieder zu der Haupt-Protagonistin Danielle Muir hin.
Womöglich hatten wir es also mit einem Cupido-Workshop oder so zu tun?
Das alles unterm durchaus aushaltbaren Dauerdröhnen eines immergleich klingenden E-Rhythmus von Ori Lichtik.
Erotisierend und verbüffend!!
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2 Chapters Love von Sharon Eyal - mit dem Staatsballett Berlin | Foto: Carlos Quezada
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Andre Sokolowski - 10. Dezember 2023 ID 14518
2 CHAPERTS LOVE (Staatsoper Unter den Linden, 09.12.2023)
Stars Like Moths
Choreographie, Bühne, Kostüme, Videokonzept: Sol León
Musik: Ólafur Arnalds, J. S. Bach, Etta James, Jóhann Jóhansson, Rameau, Max Richter, Marco Rosano und Andreas Scholl
Mitarbeit Bühne: Paul Lightfoot
Licht: Jolanda de Kleine
Video-Animation, Illustration und Schnitt: Ennya Larmit
Ton: Thijs Scheel
Mit: Jan Casier, Shaked Heller, Théo Just, Matthew Knight, Danielle Muir, Alexei Orlenco, Loïck Pireaux, Haruka Sassa, Polina Semionova, Martin ten Kortenaar und Kalle Wigle
2 Chapters Love
Choreographie und Kostüme: Sharon Eyal
Musik: Ori Lichtik
Licht: Alon Cohen
Einstudierung: Léo Lérus
Mit: Emma Antrobus, Jessica Beardsell, Alexandre Cagnar, Filipa Cavaco, Chloe Capulong, Achille De Groeve, Marina Duarte, Weronika Frodyma, Gregor Glocke, Wolf Hoeyberghs, Cameron Hunter, Mari Kawanishi, Vivian Assal Koohnavard, Ross Martinson, Danielle Muir, Fiona McGee, Filippo Pagani, Alicia Ruben, Tabatha Rumeur, Eloïse Sacilotto, Vera Segiva, Anthony Tette, Clotilde Tran, Lewis Turner, Dominic Whitbrook und Dominik White Slavkoský
Staatsballett Berlin
Premiere war am 9. Dezember 2023.
Weitere Termine: 11., 18., 21., 26., 29.12.2023// 29., 31.03./ 08., 16., 22., 29.05./ 14.06.2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsballett-berlin.de/
https://www.andre-sokolowski.de
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