Erinnerung
an John Cranko
REMEMBER ME mit dem Stuttgarter Ballett
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Elisa Badenes und Friedemann Vogel in Initialen R.B.M.E. von John Cranko | © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
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Bewertung:
Widerstand gegen das kurze Gedächtnis: Was das Sprechtheater nur äußerst selten, in Deutschland so gut wie nie wagt, ist im Ballett kein Tabu – die Rekonstruktion einer Aufführung aus der Vergangenheit. Mit anderen Tänzer*innen, versteht sich. Das ist umso auffälliger, wenn das reanimierte Stück die Namen derer im Titel trägt, für die es choreografiert wurde. (Im Schauspiel hat Thomas Bernhard diesen Trick mit Minetti und Ritter, Dene, Voss praktiziert.) Im Fall von John Crankos Initialen R.B.M.E. waren das Richard Cragun, Birgit Keil, Marcia Haydée und Egon Madsen. Jetzt, gut ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung, kommen die Initialen zusammen mit Kenneth MacMillans nur vier Jahre jüngerem Requiem, unter dem Titel Remember Me wieder auf die Bühne des STUTTGARTER BALLETTs. Museum? Ja. Aber wie lebendig. Was spricht dagegen? Dürfen nur Dinosaurier zu immer neuem Leben erweckt werden?
Als Nachfoger von Cragun, Keil, Haydée und Madsen tanzen Stars der aktuellen Compagnie: die Ersten Soliste*innen Adhonay Soares de Silva, Anna Osadcenko, Elisa Badenes und der Solist Matteo Miccini. Weitere Publikumslieblinge wie Friedemann Vogel, Jason Reilly, David Moore und Agnes Su sieht man jenseits der Initialen in den Initialen und/oder im Requiem.
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Adhonay Soares da Silva, Anna Osadcenko, Elisa Badenes und Matteo Miccini in Initialen R.B.M.E. von John Cranko | © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
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Aus heutiger Sicht scheinen die beiden Choreografien dem klassischen Ballett näher als dem gegenwärtigen Tanztheater. Sie schmiegen sich der Musik – dem 2. Klavierkonzert von Johannes Brahms und dem Requiem von Gabriel Fauré – eng an, als wollten sie sie illustrieren. Und sie repräsentieren eine Kategorie, die der gegenwärtigen Ästhetik diametral entgegengesetzt ist: Eleganz. Den Zauber eines nach oben ausgestreckten Arms – wer wagte ihn noch ungebrochen zu inszenieren? Crankos Initialen R.B.M.E. sind eine Verflechtung von Soli, Pas de deux und dem Gruppentanz des Corps de Ballet. Sprünge, Drehungen, Hebungen, das Vokabular des klassischen Balletts, werden nicht infrage gestellt. Höhepunkt ist der Pas de deux von Elisa Badenes und Friedemann Vogel in der zweiten Hälfte des elegischen dritten Satzes von Brahms’ Klavierkonzert.
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MacMillans Requiem beginnt mit einem fulminanten "Introitus", der die Solisten und das Corps de Ballet zu einem kompakten Kollektiv vereint. Danach treten Tänzer*innen in unterschiedlichen Formationen auf. Verglichen mit Crankos Choreografie haben sie hier mehr Bodenhaftung, verwandeln sich zu menschlichen Skulpturen. Im Zentrum, dem "Pie Jesu", steht ein Solo von Elisa Badenes. Nur die im Programm abgedruckte Bitte an das Publikum, während des Requiems nicht zu applaudieren, verhindert den erahnbaren Beifall.
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Friedemann Vogel, Clemens Fröhlich, Anna Osadcenko, Martí Fernández Paixà, Christopher Kunzelmann und Jason Reilly in Requiem von Kenneth MacMillan © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
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Am Schluss betraten Birgit Keil, Marcia Haydée und Egon Madsen die Bühne (Richard Cragun ist schon vor elf Jahren gestorben) und wurden bejubelt, wie es sich gegenüber lebenden Legenden geziemt.
Aber auch, wer kein Ballett-Fan ist, kam auf seine Rechnung. Alexander Reitenbach. Dozent an der Hochschule für Musik Stuttgart, am Klavier sowie Kiki Sirlantzi und Kabelo Lebyana als Vokalisten im Requiem ergänzen das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Mikhail Agrest in unübertrefflicher Weise. Der frühere Ballettintendant hat Agrest vorgeworfen, er würde zu wenig auf die Tänzer und, als wär’s ein Konzert, auf die Musikinterpretation achten. Letzteres jedenfalls kann man nach diesem Abend bestätigen. Es tut dem Ballett keinen Abbruch.
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Thomas Rothschild - 14. Juli 2023 ID 14290
REMEMBER ME (Opernhaus Stuttgart, 13.07.2023)
Ballettabend
Initialen R.B.M.E.
Choreographie: John Cranko
Musik: Johannes Brahms
Bühnenbild und Kostüme: Jürgen Rose
Mit: Rocio Aleman, Elisa Badenes, Anna Osadcenko, Agnes Su, David Moore, Martí Fernández Paixà, Jason Reilly, Adhonay Soares da Silva, Friedemann Vogel, Mackenzie Brown, Daiana Ruiz, Matteo Miccini und Irene Yang sowie dem Corps de Ballet
UA beim Stuttgarter Ballett: 19. Januar 1972
Requiem
Choreographie: Kenneth MacMillan
Musik: Gabriel Fauré
Bühnenbild und Kostüme: Yolanda Sonnabend
Licht: Mark Pritchard
Mit: Elisa Badenes, Anna Osadcenko, Martí Fernández Paixà, Jason Reilly, Friedemann Vogel, Mackenzie Brown, Daiana Ruiz, Veronika Verterich, Clemens Fröhlich, Adrian Oldenburger und Satchel Tanner sowie dem Corps de Ballet
UA beim Stuttgarter Ballett: 28. November 1976
Stuttgarter Ballett
Staatsorchehster Stuttgart
Dirigent: Mikhail Agrest
Premiere der Wiederaufnahmen beim Stuttgarter Ballett: 13. Juli 2023
Weitere Termine: 14., 19., 20., 25., 26.07.2023
Weitere Infos siehe auch: https://www.stuttgarter-ballett.de
Post an Dr. Thomas Rothschild
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