Erforschung von Exzessen
THE HUNGER von Constanza Macras in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
|
Bewertung:
Noch ohne Interims-Intendanz tritt die Volksbühne nach dem tragischen Tod von René Pollesch in die neue Spielzeit ein. Zum Auftakt zeigt die Choreographin Constanza Macras, seit 2019 dem Haus am Rosa-Luxemburg-Platz verbunden, eine weitere Koproduktion mit der Tanz- Kompanie DorkyPark:
The Hunger ist wie immer eine Mischung aus „Text und Tanz und ein bisschen Gesang und mix Media“. So bezeichnet es im Stück zumindest die Schauspielerin Anne Ratte-Polle, die nach Der Palast (2019) wieder mit im Ensemble dabei und für die meisten Text-Beiträge verantwortlich ist.
*
Lose inspiriert ist The Hunger vom Roman Der fremde Zeuge des argentinischen Schriftstellers Juan José Saer (1937-2005), der darin die historischen Ereignisse um eine Expedition spanischer Kolonisatoren nach Südamerika fiktionalisiert hat.
„Zur Zeit der großen Eroberungen im 16. Jahrhundert überfallen Indianer im Norden des heutigen Argentinien eine Gruppe spanischer Konquistadoren. Als einziger Überlebender gliedert sich der anonyme Ich-Erzähler dieses außergewöhnlichen Romans in die Stammesgesellschaft der Colastiné ein, nimmt deren Sprache und kannibalischen Sitten an. ... Es vergehen Jahre, bis abermals ein Häufchen Spanier zu den Colastiné vordringen und den Helden aus seiner Gefangenschaft befreit. Zurück in Europa, schließt dieser sich einer fahrenden Schauspieltruppe an, mit der er von nun an seine Erlebnisse bei den Menschenfressern landauf, landab inszeniert ... Saer zeigt in seinem Roman, wie sehr sich Ethnographie und literarische Fiktion ähneln - und wie brüchig die Bilder unser selbst sind.“ (Quelle: Wagenbach-Verlagstext)
Eine „Erforschung des Exzesses“ verspricht die Volksbühne in ihrem Ankündigungstext und meint damit die Übertragung kannibalischer Rituale auf andere Formen der Gier. Constanza Macras untersucht in ihrer Tanzperformance die Folgen des Kolonialismus auf die heutige kapitalistische Gesellschaft mit Konsumrausch und einer Hyperproduktion, die sich bis in die sozialen Netzwerke fortsetzt. Das klingt erstmal viel für einen knapp zweistündigen Abend, ist dann aber für die thematisch meist relativ überbordenden Produktionen Constanza Macras‘ erstaunlich stringent durcherzählt. Zumal Kapitalismus- und Konsumkritik immer wieder mal Thema bei ihr sind.
Eine weitere Konstante ist die Zusammenarbeit mit dem Musiker und Komponisten Robert Lippok, der auch für The Hunger wieder seinen magischen Elektro-Sound beigesteuert hat. Ansonsten durchzieht den Abend ein Potpourri aus Pop- und Rocksongs beginnend mit "I Bet You Look Good On The Dancefloor" von den Arctic Monkeys, zu dem das Ensemble beherzt schuhplattlert.
Auf die Bühne hat Simon Lesemann eine kleine hölzerne Tribüne, ein paar Pappmaché-Klippen und einen Gerüstturm gebaut. Dazwischen bewegen sich die TänzerInnen als Möwen, Konquistadoren, Eingeborene bei orgiastisch verknäulten Sexandeutungen und kannibalischen Ritualen oder bei Tänzen einer barocken Hochzeitsgesellschaft. Dazu spricht Anne Ratte Polle Texte aus dem Buch oder zieht die Ehe als Macht-erhaltende Institution und rein monetäre Verbindung gestern wie heute in Frage.
Das hat durchaus Witz, wenn auch die einzelnen Tanz- und Sprech-Teile, die im Stücktext thematisch sortiert, doch recht ungeordnet auf das Publikum einprasseln. Die Tanzeinlagen haben aber ihre ganz typische Macras-Qualität, die aus allen Bereichen des modernen Tanzes, Urban- oder Break-Dance ihre Quellen zieht. Irgendwann landet man auch wieder mit Trachten bei den deutschen Bajuwaren, oder Anne Ratte-Polle erzählt von einem Casting für eine Butterwerbung, bei dem sie in einem Kuh-Kostüm auftreten sollte. Sie berichtet vom Niedergang des Reality-TV, das nunmehr in den Social-Media-Kanälen zu finden ist. Mukbang-Essensvideos, bei denen junge asiatische Frauen mehr als 10 Kilo verdrücken, flimmern über die Gaze des Gerüstturms und ziehen die Parallele zum kannibalischen Ritual des indigenen Stammes aus dem Roman. Der Konsum erstreckt sich heute aber nicht mehr nur auf Waren, sondern auch auf die Gefühle, ist eine weitere Erkenntnis des Abends, der von Karl Marx über Hannah Arendts in trauter Gemeinsamkeit sein Ende findet.
|
The Hunger von Constanza Macras | Foto (C) Thomas Aurin
|
Stefan Bock - 20. September 2024 ID 14926
THE HUNGER (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 19.09.2024)
Konzept, Regie & Choreographie: Constanza Macras
Bühne: Simon Lesemann
Kostüme: Slavna Martinovic
Musik: Robert Lippok
Live-Kamera: Greta Markurt
Dramaturgie: Leonie Hahn, Carmen Mehnert und Tamara Saphir
Mit: Candaş Baş, Adaya Berkovich, Alexandra Bódi, Emil Bordás, Chloe Chua, Oksana Chupryniuk, Deborah Dalla Valle, Abdallah Damra, WooSang Jeon, Moritz Lucht, Thulani Lord Mgidi, Steph Quinci, Anne Ratte-Polle, Miki Shoji und Shiori Sumikawa
UA war am 19. September 2024.
Weitere Termine: 21., 27.09. / 09., 18.10.2024
Eine Koproduktion mit Constanza Macras | DorkyPark
Weitere Infos siehe auch: https://www.volksbuehne.berlin
Post an Stefan Bock
Ballett | Performance | Tanztheater
Freie Szene
Neue Stücke
Premieren (an Staats- und Stadttheatern)
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
DEBATTEN & PERSONEN
FREIE SZENE
INTERVIEWS
PREMIEREN- KRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
URAUFFÜHRUNGEN
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|