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Tanztheater

Die Mysterien der

Susanna oder

Holzingers

Sister Act



SANCTA von Florentina Holzinger in der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Matthias Baus

Bewertung:    



An Florentina Holzinger scheiden sich die Geister. Die einen bewundern ihre Radikalität, die dem Tanztheater neue Dimensionen erschlossen hat. Die anderen empfinden vor allem ihre Eingriffe in den menschlichen Körper als allzu provokant. Auf alle Fälle sind ihre Inszenierungen aufwendig. Ihr jüngstes Stück SANCTA ist eine Koproduktion von nicht weniger als zehn Geldgebern unterschiedlichen Zuschnitts.

Musikalisch basiert die „Opernperformace“ auf Paul Hindemiths Einakter Sancta Susanna, der um Kompositionen von unter anderem Johann Sebastian Bach, Sergei Rachmaninow und Johanna Doderer ergänzt wurde. Auf der Homepage der Stuttgarter Oper erklärt der Intendant Viktor Schoner, warum diese Produktion überhaupt auf den Spielplan gesetzt wurde:


"Grenzen auszuloten und lustvoll zu überschreiten war von jeher eine zentrale Aufgabe der Kunst. Ich freue mich darauf, gemeinsam mit Florentina Holzinger, ihrem Team und vor allem mit Ihnen, dem legendär experimentierfreudigen Stuttgarter Publikum, die eigene Komfortzone zu verlassen und idealerweise zu erweitern. Nach Bachs Johannes-Passion und Messiaens Saint François d'Assise wollen wir uns mit diesem Abend erneut auf die Suche nach Spiritualität begeben – in spektakulärer und sicherlich überraschender Art und Weise!" (Quelle: staatsoper-stuttgart.de)


Tosca oder auch Die Bassariden bedürfen solch einer Begründung nicht. Aber sie verrät, welche Überlegungen Schoner bei seiner Programmgestaltung für das „legendär experimentierfreudige Stuttgarter Publikum“ leiten. Man kann sich höchstens fragen, ob man noch von einem Experiment sprechen kann, wo sich die Veranstalter von Schwerin bis Rotterdam darum reißen, ihr Stück vom Kuchen abzubekommen.

Paul Hindemith wird regelmäßig genannt, wenn von den Wegbereitern der Moderne in der Musik die Rede ist. Dass sich seine Kompositionen in den Konzertprogrammen häuften, lässt sich nicht behaupten. Das ist ein unverzeihliches Versäumnis. Auch Sancta Susanna ist, unabhängig von Florentina Holzingers Inszenierung, ein Werk, das den Vergleich mit zeitgenössischen Kompositionen aus den frühen zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht zu scheuen braucht. Das Libretto folgt einer Szene des bis heute von der literarischen Avantgarde verehrten, beim breiten Publikum aber weitgehend vergessenen expressionistischen Dichters August Stramm.

Innerhalb von weniger als eineinhalb Jahren an der Stuttgarter Oper: Saint François d'Assise von Olivier Messiaen und jetzt Sancta Susanna. In mancher Beziehung ist Sancta Susanna mit den Gestaltungen des Stoffs der Teufel von Loudun (Aldous Huxley, John Whiting, Erich Fried, Krzysztof Penderecki, Jerzy Kawalerowicz, Ken Russel) vergleichbar. Viktor Schoner scheint eine Schwäche für religiöse, wenn auch eher kritische als frömmelnde Stoffe zu haben. An der Zielrichtung ändern auch die anfänglichen wütenden Ausbrüche der Kirche und ihrer Organisationen nichts. Man denkt an die Reaktionen auf Hermann Nitsch Jahrzehnte danach. Schoner begibt sich auf den offenbar unumkehrbaren Weg, den der nicht gerade für seine Aufgeschlossenheit bekannte Alexander Pereira mit seiner Ouverture Spirituelle für die Salzburger Festspiele eingeschlagen hat. Die Zeitgeschichte spiegelt sich in der wechselnden Programmatik von Zehelein über Wieler zu Schoner. Wo wird sie in zehn Jahren landen?

Florentina Holzinger wird in der Regel dem Tanztheater zugeordnet. Allerdings ist sie vielfach dem Zirkus und der Akrobatik näher als dem modernen oder gar dem klassischen Tanz. Damit rückt sie in die Nachbarschaft von aktuellen Tendenzen im populären Showbusiness. In der aktuellen Produktion ist es jedoch nach rund einer halben Stunde vorbei mit Hindemith, und seine Susanna – eindrucksvoll Caroline Melzer – verschwindet im Ensemble, das nunmehr musikalisch durcheinandergequirlt dem Schema der katholischen Messe folgt. Vorne besticht ein Fest der Frauenstimmen, während hinten an einer Kletterwand „getanzt“ wird.

Eine Frau kraxelt an einem Seil zu einer Glocke hoch und wird zum Klöppel, Skater sausen unermüdlich hin und her. Später schaukeln zwei Nackte auf einem überdimensionalen Weihrauchfass. Eine Magierin mit roter Perücke führt konventionelle Zaubertricks vor. Florentina Holzinger legt keinen Wert auf eine zusammenhängende Geschichte, die bei August Stramm durchaus erkennbar ist. Das ähnelt am ehesten der Folge von Ereignissen im Varieté. Die Choreografien sind zum Teil von einer Schlichtheit, die das Fernsehballett unterfordern würde.

Und die Provokation? Die nackten Frauen und masturbierende Penisträger sind ungefähr so schockierend wie eine unpünktliche Stuttgarter S-Bahn. Was komisch sein soll, ist, mit Verlaub, infantil, mehr Pennälerwitz als „Liebeskonzil“.

Tobender Applaus wie schon in Schwerin.

*

Und jetzt habe ich nur einen Wunsch: eine Oper, die sich auf Hindemith und Sancta Susanna einlässt, und einen Regisseur vom Format eines Luis Buñuel (es kann auch Calixto Bieito sein). Und dass dabei weniger mit den Armen gefuchtelt und das Körpergewicht stereotyp von einem Bein auf das andere verlagert wird. So viel Disco-Stumpfsinn war, jedenfalls in der Oper, selten.



SANCTA von Florentina Holzinger in der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Matthias Baus

Thomas Rothschild – 6. Oktober 2024
ID 14954
SANCTA (Staatsoper Stuttgart, 05.10.2024)
von Paul Hindemith, Johanna Doderer, Johann Sebastian Bach, Born in Flamez, Stefan Schneider, Nadine Neven Raihani u.a.

Musikalische Leitung: Marit Strindlund
Regie und Choreografie: Florentina Holzinger
Bühne und Kostüme: Nikola Knežević
Lichtdesign: Anne Meussen und Max Kraußmüller
Videodesign: Maja Čule
Dramaturgie: Michele Rizzo, Judith Lebiez, Philipp Amelungsen, Fernando Belfiore, Miron Hakenbeck, Sara Ostertag, Renée Copraij und Felix Ritter
Chor: Manuel Pujol
Mit: Amanda Bailey, Annina Machaz, Blathin Eckhardt, Born in Flamez, Fibi Eyewalker, Fleshpiece, Florentina Holzinger, Gibrana Cervantes, Jasko Fide, Laura London, Luz de Luna Duran, Malin Nilsson, Netti Nüganen, Paige A. Flash, Renée Copraij, Saioa Alvarez Ruiz, Sara Lancerio, Sophie Duncan, Veronica Thompson und Xana Novais sowie Caroline Melzer (als Susanna), Andrea Baker (als KLementina) und Emma Rothmann (als Alte Nonne)
Sängerinnen des Staatsopernchores Stuttgart
Staatsorchester Stuttgart
UA am Mecklemburgischen Staatstheater Schwerin: 30. Mai 2024
Stuttgarter Premiere war am 5. Oktober 2024.
Weitere Termine (in Stuttgart): 06., 26., 27.10./ 01.-03.11.2024


Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-stuttgart.de


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