Großmaschinerien im
Düsseldorfer Schauspielhaus
DER PROZESS nach Franz Kafka
Bewertung:
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Mit einem Bühnen-Kracher unvorhersehbaren Ausmaßes eröffnete das Düsseldorfer Schauspielhaus - eine der deutschsprachigen Vorzeige- sowie Elitebühnen - seine diesjährige Spielzeit!
Es engagierte sich den hierzulande (noch) relativ unbekannten Gründer und Leiter des St. Petersburger Formalny Theater: Andrej Mogutschi - und selbiger stellte nun, wie es dem vor Fassungslosigkeit schier Bauklötzer staunendem Publikum rein visuell erschien, den ganzen Laden quasi auf den Kopf; d. h. er ließ eine Maschinerie zum Rauf- und Runterfahren, Hin- und Herdrehen in Gang setzen, dass man (warum nicht öfter eigentlich?) zum ersten Mal so richtig dann begriff, was gute Bühnentechnik ist und was sie alles so vermag. Ausstatterin Maria Tregubova, die dann auch (mit ihrem Gatten Alexej Tregubov) die Kostüme schuf, zauberte für den Regisseur ein wahres Arsenal an wunderlichem Vorzeigbaren; schier unmöglich, alles das in Worte nachträglich zu fassen...
Dieser dreistündige Abend war ein optisches Spektakel, ein cinemaskopisch anmutender Vollrausch!!
Wo am besten anzufangen und wo aufzuhören?
Bei den Darstellern natürlich!
Über 70 Leute (= Protagonist Nr. 1) zählt beispielsweise schon mal der ausschließlich-extra für die Produktion - wir sprechen übrigens hier von der Aufführung Der Prozess nach Franz Kafka - zusammengerufene und -gestellte "Volksavantgardechor"; der ist sowohl vor, in als auch zwischen der Vorstellung mit deutlicher Präsenz (einer Versiebzigfachung des für Kafka als auch Kafkas Zeit typischen Prokuristen-Outfit ganz in Schwarz mit Hut und weißen Handschuhen) aktiv und spricht, dass wir uns gern und lieb auch an die alten Schleef-Zeiten erinnern, seine kurzen oder etwas längeren Textzeilen und -passagen rhythmisch auf. Wir nennen so etwas eine sozial grandiose, demokratische Idee.
Der Finne Carl Alm (= Protagonist Nr. 2) ist Josef K., der Prokurist aus Kafkas unvollendetem Roman. Er ist ein ruhiger, schlanker, fast grazil wirkender Mensch; er redet völlig unartifiziell, also wir kriegen es unmissverständlich mit, dass hier "ein Fremder" zu Gebote steht; ein Mann auch - wie's die Story seines Alteregos Preis gibt - , den wir über den Gesamtverlauf seiner Geschichte nicht viel näher kennenlernen werden als wie er uns dieses Dauerrätsel seiner selbst vermittelte. Wir finden den Gecasteten geradezu genial für die geheimnisvolle Rolle auserwählt.
Und Betty Freudenberg sowie Sven Walser (= Protagonisten Nr. 3 und 4 als stellvertretend zu Benennende des restlichen 10köpfigen Darsteller-Teams) verkörpern Leni und den Advokaten. Und "verkörpern" ist wahrscheinlich die treffsicherste Vokabel für ihren walpurgisnachtartigen Auftritt in der auf 'ner grünleuchtenden Birkeninsel mittels Boot nur zu erreichenden Kanzlei, wohin es den bedürftig Angeklagten (Josef K.) verschlägt - ein wunderlicher Albtraumort mit einem Heer übergewichtig-nackter Amazonen, die Gewehre mit sich tragen und sie zielend (insbesondere auch auf den Advokaten, der sich hoch hinauf auf einen Riesenbadeofen flüchtete) benutzen würden... Sowieso ist dieses surreale Paar (Leni & Advokat) in einer völlig aufgeblasen-physischen Markanz bestaunbar; und was Freudenberg & Walser aus diesen fantastischen Gegebenheiten machen? Spielen, spielen, spielen!
Auto, Riesenbaby, Kuhherde, die Fahrt gen Osten in einem die ganze Bühnenbreite einnehmenden Zugabteil etc. pp.
Gefühlte tausende Momente dieser Weltraumreise in den Symbolismus gäbe es noch zu erwähnen; und sie wären's wert, dass man sie unter den diversesten Gesichtspunkten analysiert.
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Buchdeckel von Kafkas Der Prozeß (Verlag Die Schmiede 1925, Erstausgabe) Quelle: Antiquariat Dr. Haack Leipzig © Foto H.-P.Haack
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Fakt ist und bleibt: Noch nie zuvor (oder womöglich nur im legendären Orson-Welles-Film) konnte vervisualisiert werden, was Angst und Ängste Kafkas "wirklich" waren. Hier, bei Mogutschi & Co., bekommen sie ein albtraumiges Abziehbild. Der allzu früh verstorbne Dichter, der, nicht nur weil er sich wirtschaftlich dann abgesichert sah, als ein Versicherungsvertreter arbeitete, war so - kopf- UND körperlich - am Puls der Zeit; um nicht am Ende völlig durchzuknallen, flüchtete er sich (vor sich UND vor der Welt) ins Schrifttum seiner selbst.
Wir lern(t)en aus dem Abend: Nichts ist balsamer als wie's Bewusstwerden einer absurden und absurder werdenden Gesellschaft inkl. ihrer Mitglieder. Also: Wir sind am Ende alle bloß nur mit...
Sensationeller Großtheaterakt.
Untoppbar.
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Andre Sokolowski - 18. September 2012 ID 6216
DER PROZESS (Düsseldorfer Schauspielhaus, 15.09.2012)
Regie: Andrej Mogutschi
Bühne: Maria Tregubova
Kostüme: Maria Tregubova / Alexej Tregubov
Video: Konstantin Shchepanovski
Musik: Alexander Manotskov / Oleg Karavajtschuk
Dramaturgie: Stefan Schmidtke
Mit: Carl Alm, Jonas Anders, Markus Danzeisen, Christian Ehrich, Betty Freudenberg, Claudia Hübbecker, Bettina Kerl, Moritz Löwe, Dirk Ossig, Taner Sahintürk, Pierre Siegenthaler, Sven Walser, Patrizia Wapinska u. v. a.
Premiere war am 15. September 2012
Weitere Termine: 21., 22., 30. 9. / 3., 23., 24., 25., 27. 10. 2012
http://duesseldorfer-schauspielhaus.de
http://www.andre-sokolowski.de
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