THE MURDER FROM "DEAFMAN GLANCE" | ERWARTUNG
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Anja Silja singt und spielt Schönbergs ERWARTUNG. Sie sucht ihn und findet ihn nicht: den Mann ihrer Träume - Foto (C) Monika Rittershaus
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Bei Bischofs liegt ein Schlachtermesser
auf dem Beistelltisch
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Die Frau des Bischofs brachte ihre beiden Kinder in die Ehe mit. Fanny und Alexander. Der Bischof kam mit seinem neuen Stiefsohn nicht zurecht. Mit seiner Stieftochter, die zu dem Bruder hielt, verhielt es sich nicht anders. Abneigungen, Ablehnungen hier und da. Die Frau des Bischofs, eine unglückliche aber umso lebenshungrigere Witwe des Theaters, denn ihr viel zu früh verstorbner erster Mann war ein Theatermensch, wusste um das Problem von Anfang an. Sie war sich auch darüber klar, in welche Welt sie ihre beiden Kinder, die wie sie mit Puppen und Theater spielten, abverlor. Der Bischof zeigt sich mehr und mehr als prinzipieller, seinem armseligen Glauben einzig und allein verhafteter, herzloser Mensch. Puppentheater wird verboten, weil es "unmoralisch" ist. Die Kinder drohen einzugehen. Beide Eheleute konzentrieren sich auf deren Abschaffung. Der Bischof meint das Strafgericht, die Frau des Bischofs meint Erlösung...
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Zwei überm Orchestrergraben ragende quadratische und kleinbühnige Tretflächen. Sie sind identisch ausgestattet. Obige Geschichte - meiner stegreifenen Assoziation zum gleichnamigen Bergmann-Film geschuldet - wird gesplittet. Links aus Perspektive Gatte, rechts aus Perspektive Gattin. Auf 'nem Stühlchen sitzt jeweils ein kleiner Junge (Alexander), blättert in 'nem Comic. Neben ihm liegt seine Schwester (Fanny) auf dem Fußboden und schläft. Auf einem Beistelltisch im rechten Hintergrund steht eine Flasche Milch, ein Glas, daneben liegt ein Schlachtermesser und eine gestärkte weiße Tuchserviette. Zwei Gestalten mit Charles-Dickens-haftem Haar und Habitus stehen, wie Salzsäulen, mit ihren Rücken gegen uns; beim ersten Hinsehen vermutete man noch zwei installierte Puppen. Grillenzirpen aus den Lautsprechern. Wird immer lauter, bricht dann ab:
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Die zwei Geschichten von den Eheleuten auf dem Bischofssitz werden erst nacheinander, später dann, d. h. zum allerletzten Schluss hin, simultan erzählt. In Zeitlupe, ohne ein Wort zu sprechen, über eine halbe Stunde lang. Ihre Geschichte geht zuerst: Sie streift sich einen Handschuh über. Sie schenkt (Alexander) ein Glas Milch ein, was sie ihrem Kind zu trinken gibt. Sie greift zum Schlachtermesser, wischt es an der Serviette ab, ersticht den Sohn. Sie zieht den Handschuh wieder aus. Sie wiederholt die Prozedur mit Handschuh, Milchglas, Schlachtermesser und Serviette, dieses Mal an ihrer Tochter (Fanny). Alles das wird auf dem rechten Podium gezeigt. - Das linke Podium zeigt, zunächst noch zeitversetzt, die Bischof-Variante. Diese gipfelt ebenso, wie die beschriebne Abfolge mit seiner Frau, in Fanny's Tötung. Bei der Einführung der Schlachtermesser in den kleinen Kindkörper der Tochter sind die Handlungen dann schlagartiger Weise "gleich" mit einem Unterschied: Bei ihr, der Bischofsfrau, ist kalte Glut, es sieht so aus, als hätte sie dem Mädchen eine Injektionsspritze verpasst - bei ihm, dem Bischof, flattern schon die Hände. Robert Wilson bringt beklommen dieses gänzlich Unvorstellbare mit einem fast schon abartigen Rudiment an Menschlichkeit herüber, dass es einem schier den Atem nimmt.
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Blackout.
Licht, kurze Umbaupause, das Orchester stimmt sich ein.
Die beiden kleinen Podien sind verschwunden.
Schönbergs Monodram beginnt.
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Das Schlachtermesser, was in Wilsons THE MURDER FROM \"DEAFMAN GLANCE\" so eine übergroße Rolle spielte, lässt die allerletzten Trost und Liebe erwartende Anja Silja sinnbildlich erblinden - Foto (C) Monika Rittershaus
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Die Frau des Bischofs ist zur Mörderin geworden. Schließlich irrt sie, Halt und Hilfe suchend, durch die Nacht. Der Mond erhellt ihr ihren Weg. Sie kommt von ihrem Leben "früher" nicht mehr los. Das Schlachtermesser, drohend aus dem Boden ragend, blitzt sie hin und wieder an. Sie hat den Bischofssitz gottlob verlassen. Eine menschliche Affäre gab es. Eine einmonatige Geschichte zwischen ihr und einem neuen Mann. Der hatte es sich allerdings schon wieder etwas anders überlegt, also mit einer andern Frau, noch während dieses einen Monates, herum gemacht. Der Frau des Bischofs sollte diese Fieslichkeit natürlich nicht entgehen. Und so stach sie ihn mit ihrem "alten" Schlachtermesser tot. Beunruhigendes Ende einer mörderischen Handlung. Anja Silja - dieses mannigfaltigste und ungeheuerlichste Stimmtalent unserer Tage - ist die derzeit Einzige, der man das Glaubwürdige dieser Schönberg'schen Musik nach diesen wundervollen Zeilen Marie Pappenheims willfährig abnimmt.
Robert Wilsons etwas über einstündige Doppelinszenierung liest/empfindet sich so wie aus einem Guss. Die Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim spielt juweliar. Was für ein insgesamter Wurf!
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Andre Sokolowski - 4. September 2006 ID 2637
http://www.andre-sokolowski.de
THE MURDER FROM "DEAFMAN GLANCE" | ERWARTUNG (Deutsche Staatsoper Berlin, 03.09.2006)
Regie / Bühne / Licht: Robert Wilson
Kostüme: Moidele Bickel
The Murder from "Deafman Glance":
Mit Anja Silja und Robert Wilson
Erwartung:
Musikalische Leitung: Daniel Barenboim
Eine Frau ... Anja Silja
Staatskapelle Berlin
Premiere war am 2. September 2006
Weiterer Termin: 10. 9. 2006
Weitere Infos siehe auch: http://www.staatsoper-berlin.de
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