Bilder von uns von Thomas Melle
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Bewertung:
Zunächst einmal gibt es nur ein Bild. Dem erfolgreichen Verlagsmanager Jesko Drescher aufs Handy gesendet, verursacht es fast einen Unfall und lässt Jesko, der sich darauf als fast nackter 12jähriger wiederkennt, sein früheres Leben wie einen einzigen Unfall vorkommen. Es geht im Stück Bilder von uns [wir berichteten bereits ausführlich über die Uraufführung des auch zu den Mülheimer Theatertagen eingeladenen Stückes] um einen Fall von Kindesmissbrauch, verübt von einem Pater und Lehrer eines katholischen Elitekollegs. Inspiriert wurde Autor Thomas Melle von ähnlichen Vorfällen im Bad Godesberger Aloisiuskolleg, an dem er selbst Schüler war.
Der Schauspieler Benjamin Grüter steht als Jesko mit seinem Smartphone zu Beginn im grellen Licht eines Diaprojektors. Um ihn herum auf alten Klassenzimmerstühlen sitzend erzählt das übrige Ensemble die Anfangssequenz. Alte Diaprojektoren sind hier neben den Stühlen einzige Requisiten (Bühne: Cora Saller). Sie sind im weißen Licht wie leere Erinnerungen, die mit flüchtigen Imaginationen gefüllt werden, oder richten sich wie Verhörlampen auf die Protagonisten.
Die Bilder aus einer Vergangenheit, die verdrängt schien, verfolgen Jesko und bringen Unordnung in sein Leben. Der Verunsicherte beginnt nun im Kreis alter Schulkameraden nach dem Versender der Fotos zu suchen, trifft aber zunächst nur auf Ignoranz und Ablehnung. Er reagiert aggressiv, da er die Kontrolle über sein Leben zu verlieren scheint. Schließlich vertraut sich Jesko Malte (Hajo Tuschy), dem Inhaber einer „Werbeklitsche“ und Johannes (Holger Kraft), einem zynischen Anwalt, an.
An wirklicher Aufklärung des Falls, der sich nun wie ein kleiner Krimi entfaltet, scheint aber weder Johannes noch Jesko interessiert. Für den Anwalt ist es ein Fall wie jeder andere mit einer flexiblen Wirklichkeit. Jesko scheut die Konsequenzen eines Gangs an die Öffentlichkeit, einen Wirbel, den keiner braucht. Er möchte nicht zum handlungsunfähigem Objekt und Opfer gemacht werden. Malte ist dagegen für einen offensiven Umgang, bei dem er Diskurs und Deutungshoheit bestimmen will.
Thomas Melle beschreibt hier sehr schön das Funktionieren eines geschlossenen Systems wie das des Kollegs, bestehend aus der Ausnutzung von Macht und Angst, das auch nach dessen Ende noch weiter funktioniert. Ausdruck dafür sind die verschiedenen Mechanismen der Verdrängung, die eine Aufarbeitung fast unmöglich machen. Das schwächste Mitglied, der psychisch gebrochene Konstantin (Benjamin Berger), nimmt sich schließlich das Leben. Nachdem auch Pater Stein gestorben ist, werden Bilder und Akten vernichtet, und Jesko schafft sich abwehrend seinen „neuen Lügenkomplex“. Dadurch verliert er auch seine Frau Bettina (Mareike Hein), nachdem er sich in eine unbefriedigende Affäre mit der Lehrerin Katja (Johanna Falckner) gestürzt hat.
Regisseurin Alice Buddeberg inszeniert das dialogreiche Stück recht sparsam aber durchaus spannend. Einige der reflexiven Prosapassagen werden von Lydia Stäubli wie eine Art schlechtes Gewissen von Jesko gesprochen. Sie ist als Freundin von Konstantin auch die Versenderin der Bilder und letztendlich auch Jeskos „Todesengel“. Es gibt keine Erlösung, wie Konstantin in seinem Abschiedsbrief schreibt. Auch Jeskos Leben geht schließlich in die Brüche. Die Fragmente seines Ichs, damals und heute, fügen sich zu keiner neuen Identität. Der anfängliche Unfall wird Realität.
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Stefan Bock - 20. Juni 2016 ID 9393
BILDER VON UNS (DT Berlin, 18.06.2016)
Regie: Alice Buddeberg
Bühne: Cora Saller
Kostüme: Emilia Schmucker
Musik: Stefan Paul Goetsch
Licht: Lothar Krüger
Dramaturgie: Johanna Vater
Besetzung:
Jesko ... Benjamin Grüter
Malte ... Hajo Tuschy
Johannes ... Holger Kraft
Konstantin ... Benjamin Berger
Katja ... Johanna Falckner
Bettina ... Mareike Hein
Sandra ... Lydia Stäubli
Uraufführung am Theater Bonn: 21. Januar 2016
Gastspiel des Theaters Bonn zu den Autorentheatertagen Berlin 2016
Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-bonn.de/
Post an Stefan Bock
blog.theater-nachtgedanken.de
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