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nachDRUCK # 6

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Neue Stücke

Distanz zur

eigenen

Vergangenheit



Bewertung:    



Seit dem gestern läuft an der Berliner Schaubühne wieder F.I.N.D. - das Festival für Internationale Neue Dramatik. Es ist die mittlerweile 15. Ausgabe der von Intendant Thomas Ostermeier ins Leben gerufen Werkschau zeitgenössischer Autoren, Theaterschaffender und Performancekünstler aus aller Welt. In diesem Jahr gibt es neues Theater aus Argentinien, Belgien, Chile, Frankreich/Kanada, Großbritannien, Israel, der Schweiz, Spanien und den USA zu sehen. Einen kleinen Schwerpunkt bilden dabei Projekte, die sich u.a. mit Dschihadismus, Migration und der aktuellen Flüchtlingsproblematik in Europa beschäftigen.


* * *


Eröffnet wurde das Festival vom Schweizer Doku-Theatermacher und Reenactment-Spezialist Milo Rau (Hate Radio, Breiviks Erklärung). Seine neue, beim Zürcher Theater Spektakel 2014 uraufgeführte Produktion The Civil Wars bezieht sich in einer rahmenbildende Klammer auf den jungen Belgier Joris, der als internationaler Dschihadkämpfer nach Syrien zog, um dort für den Aufbau einen islamischen Kalifats zu kämpfen. Sein Vater hat ihn unter abenteuerlichen Bedingungen dort gesucht und schließlich auch nach Jahren wieder nach Hause bringen können.



The Civil Wars von Milo Rau - Foto (C) Marc Stephan


Die Frage, die den Abend eröffnet heißt dann auch: "Was treibt Jugendliche, die hier geboren, die unter uns groß geworden sind, dazu, forzugehen und an den Schrecken eines Bürgerkriegs teilzunehmen, der mit ihnen nichts zu tun hat?“

Milo Rau hat einige Interviews mit jungen Belgiern und ihren Angehörigen geführt, sich dann aber entschlossen, nicht ausschließlich deren Geschichten auf die Bühne zu bringen, sondern die Erinnerungen von vier Schauspielern an ihre Kindheit und Jugend, die alle durch relativ problematische Vaterfiguren gekennzeichnet sind.

Die Parallele, die Rau bei seinen Gesprächen aufgefallen ist, führt hier zu einer theatralen Bestandsaufnahme europäischer Geschichte mit ihren verschiedenen Kämpfen und Umbrüchen. Herausgekommen ist ein sehr persönlicher, reflektierender Blick zurück, der zwar keine exemplarischen Erkenntnisse zum eigentlichen Thema zu Tage fördert, aber einige Aufschlüsse über die Radikalisierung und ihrer Folgen auch in unserer westlichen Zivilgesellschaft bringt.

Die belgische Schauspielerin Sara De Bosschere, die französische Akteure Sébastien Foucault und Karim Bel Kacem sowie der belgische Schauspieler Johan Leysen (zuletzt 2012 mit einem eindrucksvollen Heiner-Müller-Abend am Berliner HAU zu sehen) sitzen in einer kleinen Wohnkulisse, die sich zu Beginn als Rückseite einer barocken Theaterloge nach vorne dreht, und berichten, während sie sich abwechselnd dabei filmen, von ihren Vätern. Ihre Gesichter sind dabei als schwarz-weiße Projektion auf einer großen Videoleinwand zu sehen. Das einzelne Schicksal tritt heraus aus der Anonymität des ganz normalen Wahnsinns bürgerlicher Existenz.


So könnte man es zumindest für Sara De Bosschere und Sébastien Foucault behaupten. De Bosscheres Vater, aus trotzkistischen Kreisen kommend, verfällt mit der Zeit, am Elend der Welt laborierend, in eine tiefe Depression. Foucaults Vater, wie der große Philosoph Michel heißend, wird in die Tradition eines französischen Familienunternehmens gepresst und zerbricht ebenso psychisch am Niedergang der Firma infolge des globalen Kapitalismus neoliberaler Prägung. Die Leidtragenden dieses Zerfalls waren natürlich in erster Linie die Familienmitglieder. Die Krise der Väter und der gesamten westlichen Welt haben die Jugend der beiden Schauspieler geprägt. "Ich werde in einer Welt aufgewachsen sein, in ihr gelebt haben und in ihr sterben, ohne an einer einzigen kollektiven Aktion teilgenommen zu haben, um sie zu verbessern." fasst es Sébastien Foucault für sich zusammen.

Ebenso Bekanntschaft mit familiärer Gewalt hat der in einem typischen Pariser Banlieue aufgewachsene Karim Bel Kacem gemacht. Sein aus Marokko stammender Vater ergibt sich nach langer Krankheit und Arbeitslosigkeit dem Alkohol und tyrannisiert die Familie. Bel Casem hat sich damals auf der Suche nach Werten einer salafistischen Gruppe angeschlossen und auch eine Waffe besorgt, um den Vater zu töten. Er berichtet sehr freimütig von seinen Gewaltfantasien. Umgestimmt hat ihn schließlich die Hinwendung zum Schauspiel, wohl auch eine Reaktion darauf, dass er aus einem Viertel mit Oper-Straßen-Namen stammt, wie er leicht ironisch bekennt.

Johann Leysen hat dagegen seinen Vater recht früh durch einen Autounfall verloren, aber auch diese Leerstelle hat das Schicksal seiner Familie bestimmt. Er berichtet auch aus seiner Sicht als Vater, der zwei Kinder schon nach der Geburt verlor. Auflockern und sehr erfrischend im Gegensatz zum schweren Thema wirken seine Anekdoten von Filmarbeiten mit dem großen französischen Regisseur Jean Luc Godard. Reflektionen über ihren Schauspielberuf sind auch für Sara De Bosschere sehr wichtig. In zwei kleinen Szenen lässt Milo Rau sie und Leysen Passagen aus Tschechows Kirschgarten sprechen. Der Dialog des Studenten Trofimow mit der jungen Anja, die über die verloren Liebe zum Kirschgarten und dem Fehlen von Visionen für die Zukunft spricht.



Rau verdeutlich hier sehr gut, worum es ihm geht. Uns fehlen Beug und die nötige Distanz zur eigenen Vergangenheit. „Um wirklich und lebendig mit der Gegenwart zu leben, müssen wir erst mit der Vergangenheit abschließen und sie abbüßen“, wie es der Student Trofimow im Kirschgarten feststellt. Rau übertreibt es aber ein wenig damit und will sein Projekt mit fünf Kapiteln, deren Überschriften u.a. Die großen Bewegungen, Die Auserkorenen, oder Apokalypse lauten, gar in den Rang einer griechischen Tragödie erheben. Dafür ist der Abend aber doch etwas undramatisch, besitzt aber in den interessanten Erzählungen der vier Darsteller durchaus einige erhellende Momente.



The Civil Wars von Milo Rau - Foto (C) Marc Stephan

Stefan Bock - 18. April 2015
ID 8584
THE CIVIL WARS (Schaubühne am Lehniner Platz, 17.04.2015)
Text und Regie: Milo Rau
Recherche und Dramaturgie: Eva-Maria Bertschy
Ausstattung: Anton Lukas
Video: Marc Stephan
Licht: Abdeltife Mouhssin und Bruno Gilbert
Ton: Jens Baudisch.
Mit: Karim Bel Kacem, Sara De Bosschere, Sébastien Foucault und Johan Leysen
Uraufführung beim Theaterspektakel Zürich war am 27. August 2014
Premiere bei F.I.N.D. #15: 17. 4. 2015
Weitere Termine: 18. + 19. 4. 2015
Koproduktion mit dem International Institute of Political Murder (Schweiz/Deutschland)


Weitere Infos siehe auch: http://www.schaubuehne.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de

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