Von Schnellschüssen und Rohrkrepierern - das 51. Theatertreffen ist auch ein Fall für Plagiats-Diskussionen
"Tauberbach" und "Sight" im Vergleich
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Ein großes Theaterfestival lebt immer auch ein wenig vom Skandal. Über wen nicht mehr gesprochen wird, gilt langhin als tot oder schlimmer noch als langweilig. Nun waren es beim diesjährigen THEATERTREFFEN nicht so sehr die Inszenierungen selbst, die für Gesprächsstoff sorgten. Nein, ins Gerede kam zuallererst das Gebaren der Schweizer Journalistin Daniele Muscionico bei der Verfassung ihrer Einladungsbegründung für Frank Castorfs Inszenierung des Celine-Ungetüms Reise ans Ende der Nacht. Die TT-Jurorin hatte ganze Passagen aus dem Programmheft des Münchner Residenztheaters nur leicht verändert übernommen. Krawumm! Das schlug ein wie eine Bombe - um die Eingangszeile zum Text der Castorf-Produktion noch einmal in leicht abgewandelter Form zu zitieren. Der schnelllebige Festivalzirkus entpuppte sich als unkontrollierte Verwurstungsmaschine autorieller Unzulänglichkeit. Daniele Muscionico legte, erst nachdem man ihr einen weiteren Fauxpas dieser Art nachweisen konnte, ihr Jurymandat nieder. Das wirft natürlich auch ein schlechtes Licht auf das THEATERTREFFEN selbst und sein nun beschädigtes Jurywesen. Zweifellos ein Schuss ins eigene Knie. Einzelfall oder nicht, das bleibt hier die Frage.
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Als veritabler Rohrkrepieren entpuppte sich dagegen der Schnellschuss des Bündnisses kritischer KulturpraktikerInnen, die der eingeladenen Münchner Tanztheaterproduktion Tauberbach des bekannten belgischen Choreografen Alain Platel in einer spontanen Intervention vorwarf, in dem Stück würde „ein koloniales Verhältnis fortgeschrieben, das Schwarze Stimmen erneut marginalisiert“ und dass „dessen Inhalte und Ästhetik sehr stark an 'Sight' erinnern.“ Sight ist eine Tanzperformance des brasilianischen Tänzers und Choreografen Ricardo de Paula, die er mit dem internationalen Tanzkollektiv Grupo Oito im Dezember 2012 am Berliner Ballhaus Naunynstraße uraufgeführt hatte. Inspiriert von dem 2004 entstandenen Dokumentarfilm Estamira des brasilianischen Regisseurs Marcos Prado, beziehen sich beide Produktionen auf die als schizophren geltende Frau Estamira, die auf einer großen Müllhalde bei Rio de Janeiro lebte, auf der täglich acht Tonnen Müll aus der durchkommerzialisierten Wegwerfgesellschaft abgeladen werden. Dabei benutzen sowohl de Paula wie nun auch zwei Jahre später Platel einen Berg von gebrauchten Kleidungsstücken als Bühnenbild.
Mittlerweile hat sich Ricardo de Paula wohl vom Plagiatsvorwurf gegenüber Alain Platel distanziert. Was bleibt, ist der Vorwurf der Abbildung einer westeuropäischen, kolonialen Sichtweise im Stück Tauberbach. Dazu muss man wissen, dass die Hauptperson in Prados Film Estamira eine schwarze Brasilianerin am Rande der Welt - wie sie es im Film selbst darstellt - ist. Ricardo de Paula wirft in seinem Stück die Frage auf: „Was geschieht mit Menschen, die der heutigen Gesellschaft nicht mehr nützlich sind?“ Es geht ihm dabei nicht allein um die Person Estamira. Die brasilianische „Müllstadt Jardim Gramacho“ dient hier lediglich als ein Beispiel für ein auch an den Rändern des europäischen Wohlstands auftretendes Problem der Müllbeseitigung. Sight wäre demnach die Sicht über den deutschen Tellerrand hinaus auf ein, wie es in der Erklärung der Grupo Oito zu ihrem Stück lautet, „Phänomen weltweiter Müllberge“. Ein klares politisches Statement also, das mit den Worten Estamiras auch eine bestimmte Mission verfolgt.
Dies ist nicht die Sichtweise Alain Platels. Das wird beim Betrachten seiner Tanztheaterproduktion schnell klar. Auch er stellt (mit der Schauspielerin Elsie de Brauw) eine deutlich psychisch gezeichnete Frau in den Mittelpunkt. Wie sie im täglichen Kampf ums Überleben auf der Müllkippe ihre menschliche Würde bewahrt, ist das zentrale Thema bei Platel, wie es wiederum in der Beschreibung der Münchner Kammerspiele heißt. In Tauberbach überwiegt also der menschliche Aspekt gegenüber einer politischen Botschaft. Der deutsche Autor und Theaterjournalist Gunnar Decker schreibt in seiner sehr kritischen Betrachtung zu Platels Stück im Neuen Deutschland, bezüglich des Inhalts „muss man sich dem Phänomen wohl zuwenden, dass man das eine hier auf der Bühne sieht und das andere später darüber liest. Der Sinn dieser Körperübungen erschließt sich - wenn überhaupt - nur über einen nachgereichten Kommentar.“
Bedeutet dies nun, Tanz inhaltlich zu deuten, ohne den bestimmten Kontext zu kennen, wäre schlicht unmöglich? Für Ricardo de Paula und das Bündnis kritischer KulturpraktikerInnen scheint der Fall dagegen ziemlich klar auf der Hand zu liegen. Alain Platels Sicht ist nicht die ihre, und das überwiegend weiße Publikum bekomme mit der Fetischisierung einer wilden, schwarzen Frau ein koloniales Klischee vorgeführt. Nur dass hier vermutlich niemand im Publikum beim Anblick der niederländischen Schauspielerin Elsie de Brauw überhaupt an eine schwarze Frau gedacht hat. Alain Platel erwähnt dies nicht, da seine Protagonistin nur noch entfernt etwas mit der wahren Figur der Estamira zu tun hat. Man könnte ihm nun vorwerfen, schwarze Positionen auszunutzen, die aber im Gegenzug auch in de Paulas Stück gar nicht explizit im Vordergrund stehen.
Man müsste also erstens den Film und zweitens wohl auch beide Tanzadaptionen kennen, um sich überhaupt ein genaues Bild machen zu können. Wohl ein Problem jeder Vorlage, die nicht unmittelbar zum allgemeinen (weißen) Bildungskanon gehört, obwohl die Dokumentation auch auf mehreren europäischen Filmfestivals lief. Daraus aber bei der überwiegend weiß besetzten Produktion Tauberbach auf eine rassistische Motivation zu schließen, erscheint mehr als konstruiert. Eher scheint es so, als wäre de Paula vor den Karren einer sicher auch gut gemeinten Protestaktion gespannt worden, die allerdings mit miesepetrigen Parolen á la „Find 7 differences“ versuchte gegen Platel und sein Team Stimmung zu machen. Als wäre die Kunst eine Art Fake- oder Vexierbild, in dem es gelte, versteckten Unterschieden oder Inhalten auf die Spur zu kommen.
Dabei hat Ricardo de Paulas Produktion Sight diese Art von Promotion gar nicht nötig. Im zugegeben wesentlich kleineren Theatersaal des Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße ist das Publikum - hier sicht- und auch hörbar von ganz unterschiedlicher Herkunft - direkt in das Spiel mit einbezogen. Es sitzt mitten in den auf dem ganzen Boden verstreuten Kleidungsstücken, die sich die zunächst nackt hinter einer transluzenten Folie verborgenen Performer Schicht um Schicht überziehen. Durch die Folie wird ein Foto Estamiras sichtbar, das sie als schwarze Frau erkennbar macht. Die zwei weißen Tänzerinnen (Laura Alonso und Caroline Alves) und zwei schwarzen Tänzer (Zé de Paiva und Ricardo de Paula selbst) beginnen nach dem Suchen im Kleidungsmüll ein zu Klezmer-Musik der polnischen Gruppe Kroke sehr ausgelassenes Tänzchen. Ein betont emotional freudiger Beginn, der dann aber bald durch sehr verstörende Bewegungselemente abgelöst wird.
Die Performer werfen Kleidungsstücke in die Luft, rollen, schleppen und schleifen sich über den Boden. Durch die unmittelbare Nähe zu ihnen ist man beständig gezwungen auszuweichen und macht so die Erfahrung, selbst an den Rand gedrängt zu werden. In Videobildern aus dem Film sieht man Müllautos und Schaufelbagger beim Abladen des Mülls. Die Performer stellen diese Geräte dann als Mensch-Maschinen nach. In einer Art Capoeira-Choreografie wird der existenzielle wie innere Kampf Estamiras gezeigt, dazu verwebt die gesampelte Musik in Loops ihre Stimme. Immer wieder werden Schlagworte wie Kontrolle, Invisible, Exclude, Abstrakt, Kommunismus oder Mission an die Folienwand geworfen. Die Produktion gibt der Stimme der mittlerweile verstummten Estamira viel Raum. Wie eine Getriebene - was die Performer auch eindrücklich darstellen - betont sie ihre Mission aufzuklären über Gott, Wortverdreher und Besserwisser. Ein klar sozialkritisches Statement einer als schizophren gekennzeichneten Frau, das die multimediale Performance nun zu ihrer Mission macht. Zum Schluss stecken alle in großen Müllsäcken, ein deutliches Bild für das Nicht-sichtbar-sein.
Ähnliches aber auch sehr viel Differentes gibt es bei Alain Platels Tauberbach zu sehen. Neben einer ausgesprochen bemerkenswerten Tanz-, Ton- und Bewegungsdarbietung ist die Produktion aber auch ein allgemeiner Kommentar zur Orientierungslosigkeit und Unbehaustheit von Menschen, die aus verschiedensten Gründen aus der Mitte der Gesellschaft gefallen sind. Wie Ricardo de Paula in Sigth benutzt auch Alain Platel in Tauberbach die Aussagen Estamiras zur Beschreibung seiner nicht näher benannten Hauptfigur, die durch die Schauspielerin Elsie de Brauw dargestellt wird. Platel interessiert sich aber viel intensiver für den Gemütszustand seiner Hauptperson. Sie scheint Stimmen zur hören (someone in my ear), ist aber auch happy und beharrt darauf perfekt zu sein. Immer wieder betont sie alles zum Leben notwendige auf der Müllkippe zu finden.
Dissonante Töne bringt Alain Platel dann mit der Behauptung „There is no God“ und den Bach-Chören, die der polnische Aktionskünstler Artur Zmijewski mit Gehörlosen eingespielt hatte. Wie Platel hat sich Zmijewski in mehreren Arbeiten mit menschlichen Behinderungen auseinandergesetzt. Mit dem Heine-Zitat aus dessen Reisebildern „Unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte“ betritt Platel dann auch noch das Feld der europäischen Geschichte. Diese Aussage Heinrich Heines beim Anblick des grasüberwachsenen Schlachtfelds von Marengo (Napoleons Sieg 1800 über Österreich) spielt sicher auch auf die unzähligen im Dienste einer unaufhaltsam voranschreitenden Zivilisation unbekannt gestorbenen Menschen an. Vielleicht etwas zu viel Kontext für eine Inszenierung, die auch ohne dieses Wissen berührt. Hier schließt sich dann aber auch der Kreis zum Fall vom Anfang des Artikels. Es kommt in jeder Kritik darauf an, nicht nur die Erklärungen der Dramaturgen wiederzugeben, sondern unabhängig das Gesehene daraufhin einzuschätzen und zu bewerten. Und das ist, wie man sieht, auch in diesem etwas vertrackten Fall durchaus möglich.
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(C) Münchner Kammerspiele
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Bewertung beider Stücke:
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Stefan Bock - 19. Mai 2014 ID 7838
TAUBERBACH (HAU1, 04.03.2014)
Konzept, Regie, Bühne: Alain Platel
Dramaturgie: Hildegard De Vuyst und Koen Tachelet
Musikalische Dramaturgie: Steven Prengels
Licht: Carlo Bourguignon
Kostüme: Teresa Vergho
Mit: Elsie de Brauw, Bérengère Bodin, Lisi Estaras, Romeu Runa, Elie Tass und Ross McCormack
Premiere an den Münchner Kammerspielen war am 8. Februar 2013
http://www.muenchner-kammerspiele.de
Termine beim Theatertreffen: 10. + 11. 5. 2014
SIGHT (Ballhaus Naunynstraße, 15.05.2014)
Regie und Choreographie: Ricardo de Paula
Bühne und Kostüm: Grupo Oito
Lichtdesign / Technische Leitung: Irene Selka
Chroreographische Beratung: Zula Lemes
Tanz und Performance: Laura Alonso, Caroline Alves, Ricardo de Paula und Zé de Paiva
Uraufführung im Ballhaus Naunynstraße war am 8. November 2012
http://www.ballhausnaunynstrasse.de
Weitere Infos siehe auch: http://www.berlinerfestspiele.de
Post an Stefan Bock
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