89/90
Dresdner Wende-Roman von Peter Richter - als Bühnenadaption
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89/90 am Staatsschauspiel Dresden | Foto (C) David Baltzer
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Bewertung:
89/90 von Peter Richter war 2015 für den Deutschen Buchpreis vorgeschlagen. Der Roman behandelt die letzten Monate vor der Wende 1989 und das letzte Jahr der DDR bis zur Deutschen Wiedervereinigung 1990 aus Sicht eines 16jjährigen Schülers, der wiederum rückblickend diese Zeit des Übergangs und Erwachsenwerdens am Ende der sozialistischen Ära in der Stadt Dresden in kurzen Berichten und Anekdoten reflektiert. Dass dieser Roman ein Jahr später an gleich zwei ostdeutschen Stadttheatern in verschiedenen Bühnenfassungen fast gleichzeitig aufgeführt wird, überrascht nicht. Die Aufarbeitung dieser deutschen Geschichtsstunde ist sicher noch nicht erschöpfend erfolgt. Man könnte aber auch sagen: Schon wieder ein Buch aus den Vorwendetagen in Dresden auf der Bühne? Hatten wir hier nicht mit dem Turm von Uwe Tellkamp erst den ultimativen Wende-Roman, der sogar noch zu Fernsehehren gekommen ist? Man würde damit aber Peter Richter sicher unrecht tun. Die Gefahr der ostalgischen Verklärung ist bei solchen Unternehmungen am Ort der Handlung zwar nie ganz auszuschließen. Das Drang vieler sich zu erinnern (in welcher Form auch immer) dürfte aber weiterhin ungebrochen sein.
Bevor das Schauspiel Leipzig in der nächsten Woche seine Version an den Start bringt, hatte bereits am 27. August die Bühnenfassung von der Schweizer Regisseurin Christina Rast und ihrer in Elsterwerda geborenen Dramaturgin Anna Rietschel am Kleinen Haus des Dresdner Staatsschauspiels Premiere. Dass dies nicht auf der großen Bühne geschah, liegt sicher daran, dass das Große Haus am Postplatz gerade saniert wird. Projekt „Spielplansicherung“ nennt das die Stadt Dresden. Ein löbliches Ziel - sieht man, wie der Ex-Intendant Wilfried Schulz gerade mit den Umbauwidrigkeiten an seiner neuen Wirkungsstätte in Düsseldorf zu kämpfen hat. In einer Interimsspielzeit können die Dresdner nun aber mal ganz neue Spielstätten wie das Schlosstheater in der Dresdner Residenz oder das Palais im Großen Park kennenlernen. Und Saal 1 im Kleinen Haus ist dann eigentlich auch nicht wirklich zu klein für diesen Versuch, Peter Richters Dresdner Wende-Erinnerungsreigen wirkungsvoll auf die Bühne zu bringen.
Unterstützt werden die beiden Theatermacherinnen von der Dresdner Band DŸSE, was schon mal die halbe Miete für den gut 160minütigen Abend ist. Richters Roman ist nämlich neben dem eigentlichen Erzählstrang auch so etwas wie ein Soundtrack zur Wende. Sein Hauptprotagonist und dessen Freund S. - Namen sind hier Schall und Rauch und eigentlich auch nicht wirklich wichtig - wollen nämlich, dass sie (wovon Teenager wohl überall träumen) eine eigene Band gründen. An Namensvorschlägen mangelt es jedenfalls nicht, Vorbilder sind Ost-Punkbands wie Kaltfront oder Feeling B sowie englische Wave-Heroen wie New Order oder The Cure. Hauptsache, es klingt düster und kalt und nicht so beige wie amerikanische Rockmusik jener Jahre. Das notwendige Equipment wird man sich schon irgendwie zusammensparen.
Dieses Punk-Feeling kommt durch den harten Live-Sound von DŸSE auch bestens rüber. Ansonsten ist - wie bei einem richtigen Jungsbuch (und das ist 89/90 zu mindestens 99,9 Prozent; ein gutes DDR-Wahlergebnis!) - ein ausschließlich männliches Schauspielensemble auf der Bühne, das die verschiedenen Charaktere der Geschichte wechselnd verkörpert. Mädchen, mit denen man im Buch geht und die dann irgendwann plötzlich in den Westen abhauen, werden einfach in Mimik und Gestik entsprechend adaptiert. Auch die schillernde Figur des Transvestiten T wird so kurz hin karikiert.
Aber es ist nun mal vor allem ein Stimmungsbericht eines männlichen Teenagers in der End-DDR mit allem, was an Jugendkultur in dieser Zeit so abging oder was systembedingt noch oder plötzlich möglich war. Dass DDR-Musiker wie Gerhard Gundermann, der singende Baggerfahrer, oder Art-Rocker wie die Stern-Combo-Meißen bei den Jungs verpönt waren, braucht man kaum zu erwähnen. Die Mix-Tape-Hitparade der 1980er war, ganz nach Geschmack, auch in der DDR vor allem geprägt vom Chart-Pop oder Underground des Westens, und als einzige Bekleidung aus volkseigener Produktion ging gerade noch die Unterwäsche.
Auch ideologisch hatte die DDR (das kennt man schon aus dem Turm) bei einem Großteil, nicht nur der Dresdner Bevölkerung, bereits abgewirtschaftet. Das will uns zumindest Peter Richter mit seinem Buch vermitteln. Und auch wenn das sein ganz persönliches Erleben ist, hatten sogenannte Hundertprozentige, die das auch noch offen zeigten, wie etwa die Freundin des Erzählers, L., einen gewissen Exotenstatus. Diese widersprüchliche Beziehung, die der Roman in einigen Kapiteln beleuchtet, wird hier auf nur wenige Szenen reduziert, wie etwa Diskussionen über Musik und Literatur oder den ersten West-Berlinbesuch der beiden nach dem überraschenden Mauerfall Anfang November 89.
Der letzte Sommer des Sozialismus beginnt aber zunächst ganz normal mit einem nächtlichen Schwimmbadbesuch, der die Jugendlichen bei ihren Cliquenspielen zeigt. Dass sich einige von ihnen wenig später mal die Köpfe rasieren und auf anderer Köpfe einschlagen werden, ahnt da noch keiner. Richter lässt das aber in seinen rückblickenden Reflexionen schon mit anklingen. Der Autor, der jetzt als New-York-Korrespondent für die Süddeutsche Zeitung schreibt, hat seine Kindheit und Jugend in Dresden verbracht.
Man könnte ihm sicher vorwerfen, dass sein Buch auch nur mittlerweile gut bekannte DDR-Klischees auswalzt. Allerdings mit welchem ironischen Charme das hier erfolgt, ist dann doch durchaus lesenswert.
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Auf der Bühne in Dresden, an deren Rückwand Franziska Rast eine Pseudolandkarte mit den politischen Koordinaten dieser Zeit Washington, Bonn, Berlin, Moskau und natürlich Dresden angebracht hat, sieht das dann auch eher wie eine lustige Party oder Fete aus, wie man früher zu sagen pflegte. Richter hat ja seinen Romanseiten zur näheren Erklärung sage und schreibe 134 Fußnoten angefügt, die an sich schon eine ganze DDR-Novelle hergeben. Hier werden sie ab und zu mit eingestreut, damit auch der aus dem Westen zugereiste Zuschauer weiß, wie man in der DDR Konsum aussprach oder was HO und EVP bedeutete usw.
Aus seitlich stehenden Spinden werden Blauhemden, Fahnen, GST-Klamotten oder Arbeiter-Blaumänner geholt und wieder versenkt. So entstehen die passenden Bilder zu Staatsbürgerkundeunterricht, 1.Mai-Demo, Wehrlager, PA- und ESP-Unterrichtung (Fußnote: PA für "Produktive Arbeit" und EVP für "Einführung in die Sozialistische Produktion"). Wir erfahren, was die radikalen Pazifisten des Friedenskreises Wolfspelz waren, sind bei der Kirche von unten und recht plastisch bei den Wendedemos vor dem Dresdner Hauptbahnhof mit dabei.
Es werden mächtige Politikerpappköpfe und natürlich auch wieder die üblichen, kollektiven Erinnerungshighlights bemüht, etwa die berühmten Genscher-Worte im Garten der Deutschen Botschaft in Prag oder die denkwürdige Rede von Helmut Kohl vor der Ruine der Frauenkirche, die wie im Roman auch in der Inszenierung ausführlich wiedergegeben und mit den Kommentaren der jugendlichen Punker unterlegt wird, bevor diese schließlich vor der geballt anwesenden Skinheadmacht türmen müssen.
Nach der Pause folgt dann die geballte Jugendrevolte oder wie Richter es passend ausdrückt: „... da kommt was, Kinder, das wird heftig.“ Und damit sind sicher nicht nur die endlos beschriebenen Rechts-Links-Schlägereinen zwischen Skins und Zecken der sich plötzlich entsprechend ihrer Cliquenzugehörigkeit gegenüberstehenden Jugendlichen gemeint. Am Bühnenrand liegen passend dazu die neuen Baseballschläger. Auch die Deutschland- und D-Mark-Rufe werden lauter, denn nicht nur Dresden veränderte sich damals schlagartig in eine Containerfiliale der Allianz oder Commerzbank. Leider lässt dann auch die Intensität des Spiels etwas nach. Der recht interessante Teil zur neuen Jugendfreiheit mit Häuserbesetzung und Gründung der Bunten Republik Neustadt, der man im benachbarten, mittlerweile zum Touristen-Kiez verkommenen Kneipen-Areals noch immer jährlich gedenkt, wird recht kurz abgehandelt.
Auch der Sturm auf die Dresdner Stasizentrale, die Volkskammerwahl mit der plötzlich bunten Parteienlandschaft, Währungsunion und beginnende Prostitution werden gestreift. Dass man dafür merkwürdigerweise die Figur des ambivalenten Mentors der beiden Freunde, M., einen doch recht typischen Dresdner Allgemein-Bildungsbürger (zu allem auskunftsfähig und-willig) weggelassen hat, ist schade. Richters zukunftsweisender Ausblick in die beginnende Techno-Ära, einem neuen und eher unpolitischen Lebensgefühl der Spaßgesellschaft, wird aber geschickt ans Ende der Inszenierung gesetzt. Der bleiernen Kohl-Zeit folgten Schröder und Merkel, und dass sich da im Bühnenhintergrund die ganze Zeit ein alter Mann langsam wieder einmauert, ist sicher nicht ganz zufällig ein Verweis auf Pegida und die erstarkende AfD, deren Grundstein mit Sicherheit schon während der Wendezeit gelegt wurde.
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89/90 am Staatsschauspiel Dresden | Foto (C) David Baltzer
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Stefan Bock - 12. September 2016 ID 9541
89/90 (Kleines Haus 1, 10.09.2016)
Regie: Christina Rast
Bühne: Franziska Rast
Kostüm: Gunna Meyer
Musik: Jarii van Gohl
Video: Julia Laggner
Dramaturgie: Anne Rietschel
Besetzung:
Marius Ahrendt, Ben Daniel Jöhnk, Simon Käser, Loris Kubeng, Matthias Luckey, B. Pino Räder, Nicolas Streit und die Dresdner Band DŸSE mit Andrej Dietrich und Jarii van Gohl
Uraufführung am Staatsschauspiel Dresden: 27. August 2016
Weitere Termine: 16., 24. 9. / 19., 26. 10. / 5., 6.11. / 25. 12. 2016
Weitere Infos siehe auch: http://www.staatsschauspiel-dresden.de
Post an Stefan Bock
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