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Luke Prunty in Nijinski von Gauthier Dance an der Oper Bonn | Foto (C) Regina Brocke
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Bewertung:
Nijinski - so der Titel der jüngsten Balletturaufführung der Compagnie Gauthier Dance – ist eine Hommage an den großen russischen Tänzer und Choreografen Vaslav Nijinsky (1889-1950). Der polnischstämmige Nijinski besuchte ab 1900 die kaiserliche Tanzakademie in Sankt Petersburg und erreichte wegen seiner außerordentlichen Virtuosität als Künstler Weltruhm. Marco Goeckes avantgardistische Choreographie thematisiert insbesondere auch die Beziehung zwischen Nijinski und dem Impresario Sergei Djaghilew aus der Sankt Petersburger Oberschicht, dessen Liebhaber Nijinski von 1908 bis 1913 war. Djaghilew trug maßgeblich dazu bei, das russische Ballett auch im westlichen Ausland bekannt zu machen, indem er unter dem Namen Ballets Russes eine freie Compagnie gründete, zu der auch Nijinski gehörte.
Die Produktion vom Theaterhaus Stuttgart zu Musik von Frederic Chopin und Claude Debussy gastierte letzten Samstag an der Oper Bonn...
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Programmatisch folgen zehn szenische Bilder ohne Übergang aufeinander, die sich in zeitlicher Reihenfolge auf Lebensphasen und Einflüsse auf die künstlerische Entwicklung Nijinskis beziehen. Auf der leeren Bühne agieren die Balletttänzer überwiegend in unscheinbaren hautengen Ballettdress; insbesondere die männlichen Figuren tanzen meist mit freiem Oberkörper (Bühnenbild und Kostüme: Michaela Springer).
Das erste Bild symbolisiert eine ungeahnte Kraft der Kunst, die sich am Horizont abzeichnet. Danach küsst die göttliche Muse des Tanzes, Terpsichore, die Kunst und eine elektrisierende Begegnung lässt Neues erahnen. Die Kindheit wird im Rahmen eines innigen, liebevollen Pas de deux zwischen Mutter und Sohn dargestellt. Später wird der Ruhm als Tänzer und Choreograph und der Weg in die geistige Umnachtung oder innere Zurückgezogenheit dargeboten.
Das Ensemble beeindruckt mit einer nahezu perfekten Choreografie, in der die Tänzer in atemberaubender Geschwindigkeit exakt nuancierte Stakkato-Bewegungen vollführen und immer wieder zu mehreren perfekt synchron wie ein einziger Körper tanzen. Der künstlerische Leiter der Compagnie, Eric Gauthier, bezeichnet diese fliegende, wie Automatismen anmutende Bewegungsabfolge bei seiner Einführung vor Vorführungsbeginn als die Handschrift des 44jährigen Choreografen Marco Goecke. Der gebürtige Wuppertaler Goecke ist seit 2005 Hauschoreograph am Stuttgarter Ballett und brachte hier u.a. 2010 die fiktive Biographie Orlando (nach dem Roman von Virginia Woolf) zur poetisch-ausdrucksstarken Uraufführung. Die schnellen Wiederholungen einprägsamer Bewegungsabläufe - eines Zappeln, Zucken und Vibrierens - erinnern an Zeitraffer-Bewegungssimulationen bei der Stop-Motion-Filmtechnik oder an alte Stummfilme, wozu auch die eher dunkle und schwarz-weiß gehaltene Bühnenbeleuchtung beitrug. Die Schnelligkeit des Flatterns der Hände und der übrigen Gliedmaßen des sechszehnköpfigen Ensembles beeindruckt und deutet oft auch Fragilität und Flüchtigkeit an.
Nijinski ist vor allem als große Würdigung des Tanzes der tänzerischen Technik und Finesse verpflichtet. Die vorgeführten Inhalte aus Nijinskis Biografie berühren jedoch emotional nur in wenigen Momenten, wenn etwa Anziehung, Eifersucht und starke Wut bei der Begegnung zwischen Nijinski (Rosario Guerra) und Djaghilew (David Rodriguez) ausgedrückt wird, nachdem Nijinski kraftvoll Pirouetten drehend die ungarische Tänzerin Romola de Pulszky heiratete. Oft erschließen sich nur durch vom Balletttänzer Mark Ceilings eingesprochene Textfragmente eindeutige inhaltliche Bezüge zum Leben Nijinskis. Hin und wieder gibt es einen Anlass zum Schmunzeln, wenn etwa die Internatszeit, das Training an der Ballettstange oder das sexuelle Erwachen Nijinskys als junger Mann angedeutet werden. Doch auch hier hätten Übertitel es erleichtert, inhaltliche Bezüge zwischen ausdrucksstark vorgeführten Bewegungen und einzelnen Lebensabschnitten Nijinskis herzustellen. Im Gegensatz zur fulminanten 2015er-Show Infinity, mit dem die Gauthier Dance Company dieses Jahr auch in München, Lörrach, Winterthur, Aschaffenburg, Leverkusen und Gütersloh zu sehen sein wird, ist Nijinski weniger farbenfroh und vielfältig, da hier nur ein Choreograph eine komplexe Biographie abendfüllend zur Vorführung bringt, wohingegen bei Infinity viele Choreographen an acht kürzeren Stücken beteiligt waren. Nichtsdestotrotz beeindrucken das Ensemble und insbesondere Rosario Guerra in der Titelrolle durch atemberaubende Leistungen und Tanz auf höchstem Niveau.
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Garazi Perez Oloriz und David Rodriguez (links) in Nijinski von Gauthier Dance an der Oper Bonn | Foto (C) Regina Brocke
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Ansgar Skoda - 4. Juli 2016 ID 9416
NIJINSKI (Oper Bonn, 02.07.2016)
Künstlerische Leitung: Eric Gauthier
Choreographie: Marco Goecke
Bühnenbild und Kostüme: Michaela Springer
Lichtdesign: Udo Haberland
Dramaturgie: Esther Dreesen-Schaback
Mit: Garazi Perez Oloriz, Anna Süheyla Harms, Rosario Guerra, Anneleen Dedroog, Sandra Bourdais, Maurus Gauthier, Maria Prat Balasch, Luke Prunty, Alessio Marchini, David Rodríguez, Alessandra La Bella, Nora Brown, Francesca Ciaffoni, Jonathan dos Santos, Mark Geilings und Réginald Lefebvre
Premiere am Theaterhaus Stuttgart: 17. Juni 2016
Weitere Termine (in Stuttgart): 20. - 23. 7./ 26. - 31. 10. 2016
Weitere Infos siehe auch: http://www.theaterhaus.de/
Post an Ansgar Skoda
http://www.ansgar-skoda.de
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