Heu im HAU
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Heiner Müller (1929-1995) war nicht nur ein bedeutender deutscher Dichter und Dramatiker, sondern auch eine begnadete Zitatmaschine. Mit vielen seiner überlieferten Sätze ließe sich heute gut leitartikeln. So sprach Müller bereits kurz nach dem Fall der Mauer von „neuen Mauern“. In seiner Rede zur Verleihung des Kleistpreises 1990 bezeichnete er Deutschland als ortlos und „Erdbebenzone (...) auf dem Riss zwischen West- und Ostrom“. Der neue Limes hat sich heute von der Elbe weiter nach Osten und Süden verschoben, an die Grenzen Europas. Die Dramen Heiner Müllers sind immer auch ein „Ausflug in die Geschichte aus der Gier des Dramatikers auf Katastrophen“ nebst Totenbeschwörung und einem nahezu prophetischen Blick in die Zukunft. Heiner Müller ist nun seit 20 Jahren tot und sozusagen selbst Geschichte. Geschichte schreiben aber nach wie vor andere.
Zitatenreich wie Heiner Müller gibt sich auch das Festival, das das Berliner Hebbel am Ufer (HAU) dem Vielzitierten seit Donnerstagabend ausrichtet. Es heißt ganz einfach HEINER MÜLLER! - geschrieben in Müller-Versalien und mit Ausrufezeichen. Unter dem Motto des Müller-Zitats „Was jetzt passiert, ist die totale Besetzung mit Gegenwart.“ versuchen noch bis zum 12. März Performer, Musiker, Schauspieler und Regisseure Müllers Texte auf Gegenwartstauglichkeit zu überprüfen.
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Den Anfang macht aber ein alter Müller-Bekannter aus früheren BE-Zeiten, der vor 25 Jahren auch schon mal am Hebbel-Theater gearbeitet hat. Die Rede ist vom Theater- und Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg, der sein Handwerk Anfang der 1950er Jahre am Berliner Ensemble erlernte. Und auch hier ein Bezug zu Heinrich von Kleist. Der Monolog Ein Traum, was sonst mit Edith Clever, 1990 im Hebbel-Theater aufgeführt, basiert u.a. auf Kleists Prinz von Homburg. Die Clever spielt die Gräfin Bismarck, die kurz vor Kriegsende in den Trümmern ihres Gutshauses auf die Russen wartet und dabei Kleist, Goethe und Euripides deklamiert. Eine hochästhetische Kunstanstrengung, deren Verfilmung von 1994 Teil einer multimedialen Installation Syberbergs im Theatersaal des HAU 1 ist. Im Zentrum des schummrigen Raums, der in einen Müller- und Syberberg-Flügel geteilt ist, steht ein Modell des Amphitheaters von Delphi, das Urbild der Theaterwelt, auf das sich Syberberg bezieht.
Für Heiner Müller nennt sich diese mit einigen Fernsehbildschirmen, Videoleinwänden und einer Fuhre frischem Heu aus Syberbergs 2001 rückgekauftem ehemaligen elterlichen Gutshofs in Nossendorf ausgestattete, begehbare Installation. Syberberg stammt wie Müller aus Mecklenburg. Seine Familie wurde enteignet, er ging in den Westen. Müller blieb in der DDR und schrieb ein Drama zur Kollektivierung mit dem Titel Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande. 1961 von B. K. Tragelehn uraufgeführt, wurde es sofort verboten. Der Regisseur verschwand in der Produktion, der Autor flog aus dem Schriftstellerverband. Nun hat Müllers Stück eine Art Andachtsraum erhalten, den Syberberg gleichzeitig zur Reflexion seiner Geschichte als Großgrundbesitzersohn vor 1945 nutzt. Im Grunde genommen eine doppelte Rehabilitierung. Doch der Sieger der Geschichte ist der Traktor, wie Syberberg in seiner Einführung anmerkt. Ein kleines Model dieses Siegs des technischen Fortschritts über den Menschen ziert die Bühnenrampe und schlägt damit den Bogen zu Müllers frühen Werken.
Es drängen sich noch weit mehr Assoziationen beim Durchgang durch die Installation auf. Im Rückblick auf Peter Steins Birken der alten Schaubühnenära, die im Theater am Halleschen Ufer um die Ecke begann, lässt sich feststellen, dass auch Heu im HAU einen irren Duft verströmt. Ansonsten kommt man sich zwischen den Filmapparaten wie in der Vernissage-Installation The Art Show von Edward Kienholz vor, wobei das Ganze noch die Aura einer Schlingesief‘schen Totenmesse wie einst im Deutschen Pavillon der Biennale in Venedig hat. Ein wenig viel Syberberg und Clever, etwas zu wenig Heiner Müller, wobei die heiße Diskussion anlässlich einer Syberberg-Werkschau 1990 in der Akademie der Künste mit Heiner Müller und anderen Ost- und Westintellektuellen sowie die Rede von Alexander Kluge zu Heiner Müllers Tod allein schon das Ansehen wert sind.
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Foto (C) Dorothea Tuch
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Und noch ein anderer Erinnerungskünstler deutscher Geschichte ist anwesend. Neben Syberbergs Bühnenaltar mit Heu und Scheunenskelett sowie links und rechts davon je einem Videoleinwandflügel gibt es auch einen Film über die Morgenthau-Plan-Gemälde von Anselm Kiefer zu sehen. Eine künstlerische Umsetzung der US-amerikanischen Nachkriegs-Vision eines Deutschlands als befriedetem Agrarland. Ob Müller-Utopie oder -Dystopie, darüber ließe sich nun trefflich streiten.
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Stefan Bock - 4. März 2016 ID 9183
Weitere Infos siehe auch: http://www.hebbel-am-ufer.de/programm/festivals-und-projekte/2015-2016/heiner-mueller/
Post an Stefan Bock
blog.theater-nachtgedanken.de
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